Gott im Gefängnis
An einem Abend hörte ich draußen Schreie und lautes Weinen. Im Barackenviertel von Linz, wo wir damals wohnten, kannten wir jede Familie. Ich ging hinaus und sah, dass es von der Nachbarwohnung kam. Da wohnte eine Zigeunerfamilie mit zehn Kindern, die verachtet und gefürchtet war. Die Mutter hatte schon so viel mitgemacht; ihr Mann war immer wieder im Gefängnis und sie musste schauen, dass es mit den Kindern weiterging. Als ich klopfte, ließ sie mich hinein. Sie war betrunken, hatte auf diese Weise ihren Kummer ertränken wollen. Ich saß ganz nah bei ihr. Nach einer Zeit der Stille fing sie an, mir ihren ganzen Lebenslauf zu erzählen. Er war mit so viel Leid beladen, dass ich ihr nur schweigend zuhören konnte und mitweinte. Plötzlich schaute sie mich an und, wie verwandelt, sagte sie mir: „Aber weißt du, Kleine Schwester, Gott lässt uns sinken, aber nie ertrinken!“. Mit dieser Lebenssicht hat sie mich für das ganze Leben beschenkt.
In diesem Barackenviertel lebten ca. 40 Familien, meist delogiert und mit großen Problemen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie betroffen ich war, als ich einmal zählte, dass 10 von unseren Nachbarn, Männer, Frauen und Jugendliche, zur gleichen Zeit im Gefängnis waren. Ich versuchte, sie dort zu besuchen. Aber nachdem der Justizbeamte mich gefragt hatte, ob ich „Angehörige“ sei, musste ich erfolglos nach Hause zurück. Ein zweites Mal erging es mir nicht besser. Als auch beim dritten Mal die Frage kam, ob ich verwandt sei, antwortete ich selbstsicher: „Jawohl! Ich bin eine Kleine Schwester von Jesus und dadurch mit jedem verwandt!“ Ich wurde zugelassen.
Die Armen und Kleinen offenbaren Jesus
Damals, 1976, war ich in diese Welt der Gefängnisse geführt worden. Zwölf Jahre lang, neben meiner Arbeit als Putzfrau, um den Lebensunterhalt zu verdienen, besuchte ich Männer und Frauen in verschiedenen Gefängnissen und blieb ihnen nahe nach der Entlassung. Dann spürte ich, dass die Zeit reif war, um all das in einer Gemeinschaft zu leben, die sich dafür besonders widmen würde. 1995 ging dieser Wunsch in Erfüllung. Wir fingen zu zweit an und 1997 kam eine dritte Kl. Schwester dazu. Wir lebten in Wien im 2. Bezirk in einer kleinen Gemeindewohnung, wo wir unsere Freundinnen empfangen konnten, wenn sie Ausgang hatten, oder auch nach ihrer Entlassung, wenn sie in Kontakt bleiben wollten.
Wir sind weder Sozialarbeiterinnen noch Seelsorgerinnen, sondern nach dem Wunsch Bruder Karls (Charles de Foucauld) möchten wir Freundinnen werden denen, die keine Freunde haben. So versuchen wir einfach zu tun, was man in dieser Situation für seine Freunde tun würde. Es geht vor allem um Nähe und Treue, darum, mitzufühlen und Zeit zu schenken, zuzuhören, beizustehen, kleine Dienste zu tun. Staunend und dankend dürfen wir hören und schauen, was Gott tut, oft auf scheinbar verwüstetem ausgetrocknetem Boden.
„Vergiss nicht, dass es oft die Kleinen und Armen sind, die dir Jesus offenbaren werden, indem sie deine Art, die Dinge zu sehen, läutern werden“, sagte uns unsere Gründerin, Kl. Sr. Magdeleine. Sie wollte, dass die Kleinen Schwestern die Lebensbedingungen der Armen so weit wie möglich selber teilen, um ihnen nahe zu sein. Sie wollte auch, dass wir das, was wir erfahren von ihrer Not, was sie bedrückt oder was ihnen fehlt, nach außen bekannt machen, damit eine Besserung ihrer Situation möglich wird. Zugleich wollte sie Wertschätzung erwecken für die „einfachen Leute“, die so selbstverständlich Güte, Solidarität, Ausdauer, Mut leben, ohne Anerkennung zu erwarten.

Eine Oase im harten Leben
Edeltraut war sehr jung unschuldig in der Prostitution gelandet und nach 20 Jahren davon weg, weil sie es wollte. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis kümmerte sie sich um alte und kranke Menschen im Endstadium und begleitete sie mit ihrer ganzen Zärtlichkeit. „Alles hat einen Sinn. Ich habe diese Zeit im Gefängnis überlebt. Ich habe viel gelernt. Ich hatte Zeit, um über mich selbst in Klarheit zu kommen, um zu sehen, was im Leben wirklich zählt: Freundschaft, Zuneigung, Glauben an die Anderen… Gott hat mir geholfen. Er hat mir eine Freundin geschickt. Sie kam mich jeden Montag besuchen. Ich habe dort einige wunderbare Menschen kennen gelernt, auf Seiten der Häftlinge sowie auf Seiten der Justizbeamten. Das ist das Positive. Freilich gibt es all das Negative. Überall ist es so. Aber Gott ist da, egal wie wir zu ihm sind. Wenn ich nicht mehr konnte, hatte ich einen „Notrufsender“ – ich konnte wie ein Kind rufen: „Papa, hilf mir, ich kann nicht mehr!“ Er hat mich nie im Stich gelassen. Er war da, ich konnte ihm meine Sorge überlassen, ihm danken und in ihm ruhen.“ Als Edeltraud entlassen worden war, besuchte sie regelmäßig ihren Mann, der zu 9 Jahren verurteilt worden war. Diese lange Haftzeit hinterlässt tiefe Spuren. Das zeigte sich immer mehr, als er vor der Entlassung Ausgang hatte und nach Hause kam. Beide hatten sich verändert und diese Partnerschaft, die früher harmonisch gewesen war, war jetzt tief erschüttert. Sie verstanden einander nicht mehr. Aggressionen und Ansprüche stiegen. Die Beiden redeten mit uns gemeinsam darüber in großer Offenheit und Ehrlichkeit. Ihr Vertrauen berührte uns. Sie fragten sich, ob sie auseinander gehen müssten. Wir hörten zu, litten mit, fühlten unsere Ohnmacht. Edeltraud war am Rande der Verzweiflung. Am nächsten Tag rief sie an: „Weißt du, ich habe ein Gespräch mit dem ‚Vater’ gehabt (d.h. mit Gott, zu dem sie eine so tiefe, vertrauende Beziehung hat). Nach und nach habe ich eingesehen, dass ich zu hohe Ansprüche habe. Was bin ich? Der Vater ist mit mir immer voll Erbarmen – und ich?“
Die Treue der Freundschaft nach der Entlassung ist sehr wichtig, wie sie es selbst sagen, die härtere Strafe fängt erst nach der Haft an. Der Kampf „draußen“, um wieder Fuß zu fassen, ist schwer und sie fühlen sich meist sehr alleingelassen. Ihnen den Rücken stärken, sie durch den Dschungel der Amtswege, auf Arbeits- und Wohnungssuche begleiten, mit ihnen die kleinen Freuden und Erfolge feiern, das alles verbindet uns immer mehr, besonders mit denen, die keine Familie haben.
Die Treue der Freundschaft
Immer wieder sagen uns die Freunde, wie wichtig und wohltuend es für sie ist, in einem Haus empfangen zu werden, mit uns zusammen zu essen, zu plaudern, einfach da zu sein und in diesem Moment Geborgenheit und Freundschaft zu erfahren - wie eine Oase in ihrem harten Leben, wo sie Kraft schöpfen. C. sagte: „Du kannst dir nicht vorstellen, was es für mich war, das erste Mal, als ich mit euch an eurem Tisch saß!“ Dabei sah ich die Tränen in ihren Augen. Vielleicht ist es nicht nur die familiäre Atmosphäre, die sie stärkt, sondern auch die Tatsache, dass sie bei uns nichts zu verbergen haben, dass sie einfach so sein dürfen, wie sie sind, mit ihrer Leidensgeschichte, ihrer Vergangenheit, die sie sonst „draußen“ nicht erzählen können und die sie bei uns nicht zu rechtfertigen brauchen. Besonders hat mich W. beeindruckt, der sich vorgenommen hatte, bei seinem dreitägigen Ausgang unsere Küche zu fliesen. Ich besuchte ihn damals schon seit 4 Jahren im Gefängnis, aber Mado und Daniele kannte er noch nicht. Es war schön zu sehen, mit welcher Selbstverständlichkeit und welchem Vertrauen er sich vorstellte und ihnen sagte, warum er im Gefängnis war, und wie er beim Mittagessen die Zeit genoss und sich für ein paar Stunden „wie daheim“ fühlte. Er erzählte uns:“Alle hatten mich fallen lassen. Ich werde das erste Mal nie vergessen, als Du zu mir gekommen bist, Du eine Schwester. Ich fragte mich was wir gemeinsames haben könnten in dieser Galeere und mit meiner Vergangenheit?“ Aber sehr schnell ist es ganz einfach geworden: eine echte tiefe Begegnung in einem wachsenden gegenseitigen Vertrauen im Laufe seiner längeren Haftstrafe. Bei der Verabschiedung sagte er mir mit Tränen in den Augen: „Du hast nie versucht mich zu bekehren. Ich habe Deinen Glauben geachtet und Du meinen Unglauben. Ich weiß, dass die Treue eurer Freundschaft mich für immer begleitet.“
Bei einer Versammlung der Kleinen Schwestern aus aller Welt sagte uns ein Referent: „Ihr seid oft an Orten, wo man glaubt, Gott existiert nicht. Durch eure Gegenwart drückt ihr aus: Ja, Gott ist da auch an diesem Ort.“ Ja. Im Gefängnis sind wir ihm begegnet durch viele auf den ersten Blick unscheinbare, aber unverwechselbare Zeichen, die eine leuchtende Spur hinterlassen. An diesem Ort sind wir ganz unerwartet auf Funken der Hoffnung, Gesten der Solidarität gestoßen, auf Beharrlichkeit zum Durchhalten und für manche bahnt sich genau hier ein neuer Anfang an.
Dabei ist mir noch mehr bewusst geworden, wie unsere Sendung als Kleine Schwestern Jesu und aller Menschen sich vor allem in einer ganz persönlichen, uneigennützigen, achtungsvollen, gegenseitig bereichernden und treuen Freundschaft ausdrückt. Vielleicht ist das unsere besondere kleine Note innerhalb der Kirche, weil das Reich Gottes viel größer ist und die ganze Menschheit umfasst. Auf diesem Weg der Begegnung enthüllt sich das menschliche Antlitz Gottes in der Einmaligkeit jedes Einzelnen. Oft unbewusst sehnen sich die Menschen danach und suchen es in unseren Herzen. Da kommt mir der so schöne indische Gruß in den Sinn - in Verneigung vor dem anderen: „Das Göttliche in mir grüßt das Göttliche in dir!“
Kleine Schwester Janine
Den gekürzten Text finden Sie auch im ON 1/2016.
[hw]
Seit vielen Jahren besucht Kleine Sr. Janine Menschen im Gefängnis - und bleibt ihnen auch nahe nach der Entlassung. Nach dem Wunsch von Charles de Foucauld möchten die Kleinen Schwestern „Freundinnen werden denen, die keine Freunde haben". Im Gefängnis begegnet Sr. Janine Gott durch viele auf den ersten Blick unscheinbare Zeichen.