
„Die Jugend muss wissen, wie schlimm Krieg ist“
Kurz vor dem Ende des zweiten Weltkrieges wird auch das Krankenhaus der Steyler Missionsschwestern in der Gassergasse in Wien-Margareten von Bomben getroffen. Auch das Krankenhaus der Steyler Missionsschwestern in der Gassergasse in Wien-Margareten wird von Bomben getroffen. Fenster bersten, Möbel zersplittern, Mauern fallen wie Domino-Steine zusammen, der Operationssaal wird zerstört – doch wie durch ein Wunder überleben alle: Schwestern, Patient:innen und Mitarbeitende.
Sr. Maria Theresia Puchinger kennt die Chroniken der Schwestern im Orthopädischen Spital Speising wie keine andere. © Orthopädisches Spital Speising / Anna Wandaller | Download Foto
Diese dramatische Zeit liegt nun 80 Jahre zurück. Zwei, die sie miterlebt haben, erzählen davon in der neuen Folge des Podcasts „Orden on air“: Sr. Maria Theresia Puchinger ist damals neun Jahre alt gewesen. Später ist sie in den Orden der Steyler Missionsschwestern eingetreten und hat viele Jahre lang in der Administration des Orthopädischen Spitals Speising gearbeitet. Nun hat sie gemeinsam mit ihrer Mitschwester Sr. Anna Damas die Archivchroniken des Krankenhauses aufgearbeitet, digitalisiert und so für die Nachwelt bewahrt. Sie kennt die Chroniken der Schwestern wie keine andere.
Sr. Christamaria Mattes ist 1945 13 Jahre alt gewesen. Wenige Jahre später, mit 17, hat sie begonnen, auf der Kinderstation des Krankenhauses im Notquartier in der Wiener Hofburg zu arbeiten. Später ist sie ebenfalls der Ordensgemeinschaft beigetreten. Im Podcast erinnert sie sich an diese besonders herausfordernde Zeit in der Hofburg.
Sr. Christamaria hat viele Jahre auf der Kinderstation des Krankenhauses gearbeitet. Hier ist sie neben einem Bild von ihr als Krankenschwester zu sehen. © ÖOK/rm | Download Foto
Zwischen Bombenalarm und gelebter Nächstenliebe
Am 8. Februar 1945 ist in der Chronik der Schwestern zu lesen: „Schon hörten wir das Brummen der Motoren, ein Rasseln, ein Zischen, immer näher – jetzt ein Krachen, Klirren, Beben und Senken des Fußbodens, Wände zitterten, Türen flogen auf, undurchdringliches Dunkel – es hatte bei uns eingeschlagen.“ Sr. Maria Theresia erzählt: „Die Schwestern wussten nicht, ob es Tote gab – die einen waren im obersten Stockwerk, andere im Keller.“ Als die Bomben einschlagen, herrscht Panik. Doch als sich der Rauch lichtet, wird klar: Alle leben. Trotzdem ist klar: Das Spital ist unbrauchbar. Es fehlt an Wasser, Strom, Hygiene.
Notiz einer Schwester zum Bombentreffer im Februar 1945. Danach übersiedelte das Orthopädische Spital in das Ausweichquartier in der Hofburg. © Orthopädisches Spital Speising | Download Foto
Eine Notlösung muss her – und kommt an einem unerwarteten Ort: Die Hofburg in der Wiener Innenstadt wird den Schwestern als Ausweichquartier angeboten. Heute befindet sich die Österreichische Nationalbibliothek in diesen Räumen. Damals wurden dort Kriegsverletzte, orthopädisch erkrankte Kinder und Zivilist:innen versorgt – unter gänzlich ungeeigneten Bedingungen: Gipszimmer auf dem Stiegenabsatz, Operationsräume ein paar Treppen weiter, Krankensäle mit bis zu 60 Betten. Kein Aufzug – die Patient:innen wurden von Zimmer zu Zimmer, von Stockwerk zu Stockwerk getragen. In der Chronik steht: „Die Arbeit war überwältigend, immer mehr Patienten kamen, denn die Front rückte unheimlich näher und die Luftangriffe dauerten fort. Um 10 Uhr mussten die Kranken schon in den Keller, und es gab keine Aufzüge für die Kranken.“ Aber einen Vorteil hatte die Hofburg: „… die tiefen sicheren Keller – und wer sehnte sich nicht nach letzterem?“
Herausfordernde Zeiten im Ausweichquartier in der Hofburg. „Wir hatten nichts. Es war eine arme Zeit“, erinnert sich Sr. Christamaria. © Orthopädisches Spital Speising | Download Foto
„Wir hatten nichts. Kein Wasser, keine Infrastruktur. Alle Betten belegt. Es war eine arme Zeit“, erinnert sich Sr. Christamaria. Sie selbst ist als junge Schwester vorrangig auf der Kinderstation im Einsatz gewesen. „Wir haben Windeln gewaschen und überall im Stiegenhaus aufgehängt, damit wir am nächsten Tag wieder genügend Windeln für die Kinder hatten.“
„Die Schwestern haben sich um alles gekümmert – um Verwundete, Amputierte, Sterbende. Immer auch im christlichen Sinne. Und sie hatten oft Sorge, dass sie nicht genügend Essen für die Patienten haben. Zum Glück sind immer wieder Lebensmittelspenden gekommen. Schwestern sind mit dem Schubkarren aufs Land gegangen und haben Lebensmittel geholt – öffentlichen Verkehr gab es damals nicht, es war alles kaputt“, erinnert sich Sr. Maria Theresia an Auszüge in der Chronik. Einmal berichtet die Chronistin von gespendeten Eiern: „Wenn in späteren, besseren Jahren die Chronik gelesen wird, denkt man vielleicht: Was sind 150 Eier für 220 Patienten, und ist das so ein Ereignis, dass das in der Chronik verzeichnet wurde?“
Ausweichquartier in der Hofburg. Das Orthopädisches Spital war von 1945 bis 1956 in der Hofburg, wo heute die Nationalbibliothek zu finden ist, untergebracht. © Orthopädisches Spital Speising | Download Foto
Gefährliche Nähe: Die Hofburg im Visier der SS
Mit Vorrücken der Alliierten im April 1945 entsteht eine neue Gefahr: Die SS plant, die Hofburg zu sprengen. Sprengstoff und Benzinfässer liegen schon im Keller bereit. Dass es nicht dazu kommt, ist eine weitere glückliche Fügung in dieser ohnehin wundersamen Geschichte.
Das russische Militär übernimmt das Kommando in der Hofburg. Das ist sowohl für die Schwestern als auch für die russischen Soldaten eine neue Erfahrung. In der Chronik ist zu lesen: „Manche staunten uns an wie ein Weltwunder, sie hatten in ihrem Leben noch keine Schwestern gesehen. Es war ihnen ein Rätsel, dass wir nicht verheiratet waren, wir trugen doch einen Ring.“ Zum Glück waren es „gute Soldaten, die der liebe Gott zu uns geführt hatte“ ist in der Chronik festgehalten, aber auch „Herr Dr. Grohs legte im OP-Bunker Verbände an, wobei in jeder Ecke ein Posten schussbereit stand und auf jede Handbewegung achtete. Überhaupt waren alle bis an die Zähne bewaffnet und bei jeder Frage hielten sie gleich die Pistole vor, aber daran waren wir bald gewöhnt.“
Elf Jahre lang betreiben die Steyler Missionsschwestern das Krankenhaus in der Hofburg. 1956 übersiedelt die Einrichtung an den heutigen Standort in Wien-Speising und ist seitdem als Orthopädisches Spital Speising bekannt.
„Geschichte unseres Hauses“ - so beginnt die Chronik der Schwestern im Jahr 1917. Ein wertvolles Zeitdokument. © Orthopädisches Spital Speising / Anna Wandaller | Download Foto
Erinnerung als Auftrag
Heute, 80 Jahre später, sehen beide Schwestern die Weitergabe dieser Erfahrungen als wichtige Aufgabe. „Die Jugend muss wissen, wie schlimm Krieg ist, sie muss vertraut sein mit der Geschichte“, sagt Sr. Maria Theresia, „es gibt nur noch wenige, die davon erzählen können, was für eine schreckliche Zeit das war.“
Mit Blick auf die aktuellen Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten gewinnen ihre Erinnerungen eine bedrückende Aktualität. „Wenn man sieht, was dort passiert – Bomben, Kälte, Menschen auf der Flucht. Das ist wie damals“, sagt Sr. Christamaria.
Haben die Chronik des Hauses aufgearbeitet, digitalisiert und so für die Nachwelt bewahrt (v.l.): Sr. Rita Josefa Raich, Sr. Anna Damas und Sr. Maria Theresia Puchinger. © Orthopädisches Spital Speising / Anna Wandaller | Download Foto
„Orden on air“ – der Podcast der Ordensgemeinschaften Österreich
Das Medienbüro hat im März 2022 mit dem Podcast „Orden on air“ einen neuen Medienkanal der Ordensgemeinschaften Österreich ins Leben gerufen. Und der Name ist Programm: Der Podcast der Ordensgemeinschaften Österreich holt Ordensfrauen und -männer vor den Vorhang und – im wahrsten Sinne des Wortes – vor das Mikrofon. Ziel ist es, interessante Persönlichkeiten und besondere Talente vorzustellen sowie das Engagement von Ordensleuten in den vielfältigen Bereichen des Lebens zu zeigen. Der Podcast der Ordensgemeinschaften Österreich überall zu hören, wo es Podcasts gibt.
Weiterlesen:
Alle Folgen von „Orden on air“
Website der Steyler Missionsschwester
Website des Orthopädischen Spitals Speising
Steyler Missionsschwestern (Ordens-Wiki)
[Text: Renate Magerl; Sr. Anna Damas]