Vergessenen Kindern Flügel geben
Jedes dritte Kind in der Republik Moldau hat eine chronische Krankheit. Die Söhne von Natalia haben ebenfalls gesundheitliche Probleme. Aber heute ist ein guter Tag: Sie freuen sich über die Lebensmittel, die die Sozialarbeiterin von Concordia vorbeigebracht hat. (c) Stift Klosterneuburg / W. Hanzmann
Natalia lebt mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen (11, 7 und 2 Jahre alt) in Bulboaca, einer Ortschaft südlich der Hauptstadt Chișinău. Als Concordia auf die Familie aufmerksam wurde, lebte die Familie unter sehr schlechten Bedingungen, die Wände waren feucht und schimmelig, die Decke war gebrochen und nicht jedes Familienmitglied hatte einen Schlafplatz. Hinzu kommt, dass alle drei Söhne gesundheitliche Probleme haben. Natalia kann deshalb auch nicht in ihrem gelernten Beruf als Köchin arbeiten. Ihr Mann repariert Autos, gerade werkelt er an einem alten Lada. Das Geld reicht bei weitem nicht, um die Familie zu versorgen und die Medikamente für die Kinder zu bezahlen. Natalia zeigt uns ihre kleinen Räumlichkeiten und eines fällt sofort auf: Überall stehen Medikamente. Zwei kleine Räume hat die fünfköpfige Familie zur Verfügung. Mit der Unterstützung von Concordia konnte die Familie die notwendigsten Reparaturen am Haus durchführen und Lebensmittel, Kleidung und Medikamente kaufen. Die Söhne sind aufgeweckt und freuen sich über das mitgebrachte Paket mit Lebensmitteln. Nicolai, der Jüngste, zeigt uns das Glas Nutella und strahlt über das gesamte Gesicht.
Concordia-Sozialarbeiterin Tatiana im Gespräch mit Natalia. Die Mitarbeiterinnen von Concordia kennen jede ihrer betreuten Familie sehr genau - damit punktgenaue und maßgeschneiderte Hilfe möglich ist. (c) Stift Klosterneuburg / W. Hanzmann
So wie Natalia und ihrer Familie geht es vielen Familien in der Republik Moldau – einige konnten wir auf unserer Reise durch das Land besuchen. Um ein Gefühl für das Land zu bekommen: Jeder vierte Einwohner und jedes dritte Kind leben in Armut, rund 28.000 Kinder wachsen ohne Eltern auf, weil diese ins Ausland zum Arbeiten gegangen sind, jedes dritte Kind hat eine chronische Krankheit. Vor allem in ländlichen Gebieten ist die Armut stark ausgeprägt. Nur 60 Prozent der moldawischen Dörfer haben Zugang zu sauberem Wasser.
Zwei starke Frauen, die Unmögliches möglich machen: Viorica Matas und Tatiana Balta, die beiden Geschäftsführerinnen von Concordia Moldau. (c) ÖOK/rm
Eine Partnerschaft, die Früchte trägt
Seit dem Jahr 2000 unterstützt das Stift Klosterneuburg die Arbeit von Concordia Sozialprojekte mit dem eigens dafür gegründeten Verein „Ein Zuhause für Straßenkinder“, mit über 200.000 Euro im Jahr. Regelmäßig macht sich eine Gruppe rund um Propst Anton Höslinger und Wirtschaftsdirektor Andreas Gahleitner ein Bild vor Ort. „Die Unterstützung von Concordia ist uns seit vielen Jahren ein großes Anliegen. Es ist immer wieder schön zu sehen, wie die Spenden bei den Menschen vor Ort ankommen und wie sich die Projekte weiterentwickeln“, so Propst Anton Höslinger.
Das Stift Klosterneuburg unterstützt seit 23 Jahren die Arbeit von Concordia. Im Sozialzentrum von Tudora haben Propst Anton Höslinger und Bernhard Drumel die Partnerschaft nochmals besiegelt. (c) Stift Klosterneuburg / W. Hanzmann
Was ich in Moldau erlebt und gesehen habe, lässt mich wohl länger nicht los: Einerseits ein gespaltenes Land zwischen pro EU und pro Russland, ein Land in ambivalenter Gefahr durch die Nähe zur Ukraine, ein korruptes Land, ein Land mit viel Armut und Elend. Andererseits ein aufstrebendes und hoffungsvolles Land mit starken und gastfreundlichen Menschen sowie eindrucksvolle Einblicke in die größte Hilfsorganisation im Land – die Concordia Sozialprojekte. Mitarbeiter:innen, die mit Professionalität und Leidenschaft individuell und genau dort helfen, wo Hilfe benötigt wird. Menschen, die mit Herzblut bei der Sache sind, deren Augen strahlen, wenn sie von gelungenen Projekten erzählen, aber auch Tränen, wenn sie von besonders schlimmen Fällen berichten. Drei Tage lang zeigten uns Viorica Matas und Tatiana Balta, die beiden Geschäftsführerinnen der Concordia Sozialprojekte, sowie Bernhard Drumel, Geschäftsführer von Concordia International, wie sie mit maßgeschneiderten Hilfspaketen Kindern und Jugendlichen, Familien und auch älteren Menschen vor Ort helfen.
Hilfe, Zuwendung und auch Spaß bedürfen nicht vieler Worte. Bernhard Drumel spielt mit den Kindern in der Casa Concordia "Schere, Stein, Papier". (c) ÖOK/rm
Auswirkungen des Krieges in der Ukraine
Concordia wurde 1991 von P. Georg Sporschill SJ gegründet, heute ist P. Markus Inama SJ Vorstandsmitglied der Hilfsorganisation. Seit 2004 ist Concordia auch in der Republik Moldau aktiv und ist mittlerweile die größte Hilfsorganisation im Land. Im Jahr 2022 konnten die 230 Mitarbeiter:innen und 83 Ehrenamtlichen der Concordia Sozialprojekte Moldau insgesamt rund 7.500 Menschen mit ihren maßgeschneiderten Programmen helfen. Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine im Februar 2022 hat sich die Situation in der Republik Moldau nochmal verschärft. Über 900.000 Flüchtlinge kamen seither an der Grenze zu Moldau an; 109.000 Ukrainer:innen sind in Moldau registriert. Im Jahr 2022 konnte Concordia rund 500 „Gastfamilien“ aus der Ukraine unterstützen und leistete rund 15.000 ukrainischen Geflüchteten humanitäre Hilfe.
An der "Busstation" in Tudora, nahe der ukrainische Grenze. Elena von UNHCR erzählt uns, dass aktuell 50 bis 60 Menschen pro Woche über die Grenze kommen. (c) Stift Klosterneuburg / W. Hanzmann
Der Kleinbus, mit dem wir unterwegs sind, wurde angeschafft, „um im Notfall ‚unsere‘ Kinder und Jugendlichen so schnell wie möglich aus dem Land rausbringen zu können“, erzählt Bernhard Drumel. Ein beängstigender Gedanke. Gänsehautmomente kommen auch auf, wenn Tatiana Balta und Viorica Matas vom 24. Februar 2022 erzählen. Der Tag an dem Russland die Ukraine angegriffen hat. Viele Menschen haben fluchtartig das Land verlassen, viele haben ihre Koffer für den Notfall gepackt – darunter auch viele Mitarbeiter:innen von Concordia. Viorica und Tatiana spielten selbst mit dem Gedanken mit ihren Familien Moldau zu verlassen. Aber sie wussten „hier sind tausende Kinder und Jugendliche, die unsere Hilfe brauchen.“ Wer sonst würde sich um die Kinder in Moldau kümmern. Die beiden erstellten einen Krisenplan und riefen ihre Teams im ganzen Land zusammen. Was braucht es zuallererst? Was muss wann und wo besorgt werden? Wer fährt an die Grenze? Wer kümmert sich um die verbliebenen Familien im Land? Wo können Flüchtlinge untergebracht werden? Die beiden können sich selbst nicht mehr so genau erinnern, ob und wie viel sie in diesen ersten Tagen und Wochen des Kriegsbeginns geschlafen haben. Als sie uns ihre Erinnerungen schildern, haben sie Tränen in den Augen. Zwei starke Frauen, die gemeinsam mit ihrem Team Unmögliches möglich gemacht haben.
Die kleine Ana (1 Jahr) ist mitten im Krieg geboren. Bei unserem Besuch ist sie sehr aufgeweckt und auf der Suche nach einer Spielpartnerin. (c) ÖOK/rm
Ein Haus voller Kinder
Gleich am ersten Tag unserer Reise besuchen wir zwei ukrainische Familien aus Odessa, die Platz in einem Concordia-Haus in der Hauptstadt gefunden haben. Die drei Frauen mit zwei Kindern wohnen im untersten Stockwerk eines mehrstöckigen Hauses. Die vierjährige Evghenia besucht bereits den Kindergarten, die einjährige Ana ist mitten im Krieg geboren. Sichtlich traumatisiert von den Erlebnissen erzählt uns die junge Mutter, dass sie beim Bombenalarm immer wieder in den Keller des Krankenhauses mussten. Die kleine Ana bekommt davon nichts mit und läuft aufgeweckt und auf der Suche nach Spielpartnern zwischen uns hin und her.
Ein Stockwerk höher besuchen wir Victoria und Alexei mit ihren acht Kindern. Die beiden sind seit 2015 Pflegeeltern und kümmern sich um vier leibliche Kinder und vier Pflegekinder. Victoria ist Ärztin in einem privaten Krankenhaus, Alexei ist Taxifahrer. Die Kinder wachsen hier in einer „richtigen Familie“ auf, lernen selbstständig zu leben, Verantwortung zu übernehmen und sich um den Haushalt zu kümmern. Concordia trägt 80 Prozent der Haushalts-Rechnungen.
Die Delegation des Stiftes Klosterneuburg mit den Kindern und Betreuerinnen in der "Casa Concordia". Hier leben zehn Kinder und Jugendliche zwischen sieben und 16 Jahren mit Betreuerinnen. (c) Stift Klosterneuburg / W. Hanzmann
Noch einen Stock höher kommt uns lautes Kindergelächter entgegen. Es ist das „Casa Concordia“. Hier leben zehn Kinder und Jugendliche zwischen sieben und 16 Jahren mit Betreuer:innen. Es sind Waisenkinder oder Kinder von Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern können oder denen das Sorgerecht entzogen wurde.
In diesem Haus leben 14 Kinder, denen dank Concordia ein liebevolles Zuhause mit umfassender Betreuung ermöglicht und zugleich der Weg in ein selbstständiges und besseres Leben geebnet wird. Ja, hier werden Kindern Flügeln gegeben, wie es Concordia-Chef Bernhard Drumel beschrieben hat, und er ergänzt: „Die Flügel sind schon da, wir helfen ihnen dabei, die Flügel auszubreiten.“
Concordia ermöglicht Kindern und Jugendlichen in Not eine behütete Kindheit und Perspektiven für die Zukunft - so wie hier in der "Casa Concordia" in der Hauptstadt der Republik Moldau. (c) Stift Klosterneuburg / W. Hanzmann
Starthilfe für junge Erwachsene
Unser nächster Stopp liegt in einer typischen sowjetischen Plattenbau-Gegend. Im 11. Stockwerk des 17-stöckigen Hauses befindet sich eine von insgesamt sechs „Social Youth Flats“/ betreuten Übergangswohnungen. Alexandru (18 Jahre) öffnet uns mit einem Lächeln die Tür zu „seiner Wohnung“, die er sich mit zwei anderen Jungs teilt. In jeder Wohnung leben drei junge Frauen oder drei junge Männer zusammen. Concordia ermöglicht den jungen Erwachsenen Starthilfe, indem sie für Betriebskosten aufkommen. Alles, was die jungen Leute zum Leben brauchen, wie Essen, Kleidung etc., müssen sie selbst kaufen. Wir unterhalten uns mit Alexandru auf Englisch, in dieser Sprache programmiert er auch Websites und verdient damit sein erstes eigenes Geld, erzählt er uns sichtlich stolz.
Im Multifunktionszentrum Tudora geht es am Nachmittag ganz schön rund. Tanz und Bewegung steht auf dem Programm. Und alle machen mit. (c) ÖOK/rm
Nur wenige Kilometer von Odessa entfernt
Am nächsten Tag fahren wir nach Tudora im Süden des Landes, an die Grenzstadt Palanca. Es ist eine der wichtigsten Fluchtrouten von der Ukraine nach Moldau und weiter in den Westen. Die umkämpfte Stadt Odessa ist nur rund 50 Kilometer entfernt. „Bei starkem Bombenbeschuss hört man die Bomben auch hier an der Grenze“, erzählt uns Viorica. Wir steigen aus unserem Bus aus, es herrscht Stille in der sonst sehr gesprächigen Gruppe. Ein bedrückendes Gefühl, zu wissen, dass dort, wenige Meter entfernt, Krieg herrscht. Fotografieren ist verboten. Im Zelt von UNHCR ist heute wenig los, „rund 50 bis 60 Personen kommen pro Woche aus der Ukraine über die Grenze“, erzählen uns die Helfer:innen.
Unser eigentliches Ziel an diesem Tag ist das Multifunktionszentrum Tudora. Nach der bedrückenden Stimmung an der Grenze nun das pralle Leben. Es ist ein Tageszentrum für Kinder und ältere Menschen. Die Kinder und Jugendlichen bekommen hier eine warme Mahlzeit, machen ihre Hausübungen, lernen, singen und tanzen oder basteln mit den älteren Personen. Zusätzlich wohnen 12 ältere Personen, die Pflege und Betreuung benötigen, hier im Sozialzentrum. Es herrscht eine ausgelassene und fröhliche Stimmung bei Groß und Klein. Man spürt den starken Zusammenhalt der Menschen im Haus: Mitarbeiter:innen und Freiwillige, Jung und Alt helfen zusammen, um allen ein lebenswertes Leben zu ermöglichen.
Die Kinder vom "Haus der Weisheit" empfangen uns in traditioneller Kleidung sowie mit Brot, Salz und Früchten. (c) ÖOK/rm
Das Haus der Weisheit
Zum Abschluss unserer Reise besuchen wird das „Haus der Weisheit“, eine temporäre Unterbringungsmöglichkeit für gefährdete Kinder. Das Haus wurde zu einem großen Teil aus den Spenden des Stiftes Klosterneuburg erbaut und wir sind die ersten Besucher:innen. In traditionellen Kleidern empfangen uns die Kinder nach moldauischer Tradition mit Brot, Salz und Früchten. Jeder von uns zupft sich ein Stück Brot und tunkt es in das Salz. Aktuell leben acht Kinder im Alter von fünf bis 16 Jahren im „Haus der Weisheit“. Sie alle haben in so jungen Jahren schon eine Geschichte, ein Schicksal. Es sind Kinder, die Opfer von Missbrauch geworden sind, in ihren Familien vernachlässigt oder ausgebeutet wurden. Wir lernen den 14-jährigen Victor kennen. Er wohnt hier, weil seiner Mutter aufgrund von Alkoholismus das Sorgerecht entzogen wurde. Die Kinder erhalten psychotherapeutische Hilfe, Unterstützung beim Lernen und ein liebevolles Umfeld, in dem ihre Stärken gefördert werden.
Hilfe die ankommt. Concordia ist die größte Hilfsorganisation im Land. Die Menschen sind dankbar für diese Hilfe. So wie es auch der 16-jährige Pedru in seiner Dankeskarte zum Ausdruck bringt. (c) ÖOK/rm
In Demut für ein gutes Leben aller
Drei eindrucksvolle Tage liegen hinter mir. Wir haben viel gesehen. Viel Armut, Krankheit, Verzweiflung. Wir haben aber auch gesehen, was dank der Hilfe und Unterstützung von Concordia für benachteiligte Kinder, Jugendliche und ihre Familien getan wird. Starke und langjährige Partnerschaften, wie die des Stiftes Klosterneuburg machen diese Hilfe nachhaltig möglich.
Und wieder einmal wird deutlich, wie präsent, relevant und wirksam Ordensgemeinschaften sind. Gegründet von einem Ordensmann, heute mitgeführt von P. Markus Inama SJ im Vorstand und unterstützt von Ordensgemeinschaften wie dem Stift Klosterneuburg und den Jesuiten. Hand in Hand für ein gutes Leben aller.
*alle Namen von Kindern und Eltern wurden von der Redaktion geändert