Angepasste Jugend, deinstitutionalisierter Glaube - und die Chance der Orden
Im April 2016 wurde in Berlin die Sinus-Jugendstudie vorgestellt. Die Untersuchung zeigt: Rebellion und Provokation ist out; die Jugendlichen wollen zum Mainstream gehören und so sein „wie alle“. Dabei stehen Freiheit, Toleranz und soziale Werte hoch im Kurs. Gilt das auch für Österreichs Jugendliche?
Heinzlmaier: Eigentlich nimmt die Sinus-Studie keine allgemeinen Charakterisierungen vor. Sie teilt die Jugendlichen in verschiedene Milieus ein, die teilweise gegensätzlich sind. Wenn man sich nun die neuesten Daten der Jugend-Sinusstudie anschaut, dann gibt es für Österreich sechs Milieus, die teilweise komplett verschieden sind.
Jetzt zitiere ich einen Satz, den Sie 2013 sehr provokativ formuliert haben: Ich sehe den Trend zum angepassten Hosenscheißer.
Heinzlmaier: (lacht) Das ist schon fast unzulässig, wenn man es in dieser Generalität sagt, denn natürlich charakterisiert man damit nicht alle Jugendlichen. Aber Fakt ist: mehrheitlich ist es so. Die Mehrheit der Jugendlichen gehört zum Milieu der so genannten Adaptiv-Pragmatischen. Sie orientieren sich am defensiven Sicherheitsstreben, am Machbaren, sind extrem nutzenorientiert, fleißig und anpassungswillig. Sie verfolgen den eigenen Vorteil und versuchen aufzusteigen, indem sie mitmachen. Aufstieg durch Anpassung – das ist ihr Konzept.
Das klingt jetzt nicht sehr positiv.
Heinzlmaier: Natürlich gibt es auch Jugendliche, die nicht so sind. Die so genannten Postmaterialisten sind sehr ökologisch orientiert und wollen die Gesellschaft verändern. Ideale erscheinen ihnen wichtiger als Geld. Das sind aber Ausnahmen; die Mehrheit ist eher angepasst. Sie ist nach außen hin auf Harmonie ausgerichtet; Konflikte werden auch nicht mehr offen ausgetragen, sondern man versucht sich durch taktische kommunikative Varianten, durch geschicktes Netzwerken Vorteile zu verschaffen. Moralisch sind eigentlich nur die Postmaterialisten, alle anderen haben die Ethik durch den Nutzen ersetzt.

Woran liegt das? Frühere Generationen wollten die Welt verändern.
Heinzlmaier: Ich glaube, es gibt zwei Faktoren, die dafür ausschlaggebend sind. Das eine ist der Sorgendruck, das andere die Ökonomisierung. Die Generation der Babyboomer, die zwischen 55 und 65 geboren wurden, konnte relativ unbeschwert aufwachsen. Es gab Jobs und günstige Wohnungen – die idealen materiellen Voraussetzungen, um eine Familie zu gründen. Man konnte vieles dem Zufall überlassen und glaubte, alles würde sich schon irgendwie zum Guten wenden – und das funktionierte auch meistens. Das ist heute nicht mehr der Fall. Deswegen müssen die Menschen viel strategischer vorgehen. Sie können nichts mehr dem Zufall überlassen. Deshalb sind die Jugendlichen auch sehr pragmatisch und gehen sachlich und emotionslos an das Leben heran. Sie entwickeln früh einen Lebensplan und verfolgen diesen konsequent. Wenn du nicht spurst, verlierst du.
Der zweite Aspekt ist die Ökonomisierung. Die Imperative der Wirtschaft greifen auch auf das Privatleben zu. Das führt dazu, dass man das Leben nicht mehr spontan ablaufen lassen kann, sondern man behandelt es so, als wäre es ein Geschäftsfall. Und wenn das so ist, dann engagiert man sich nur dann, wenn es einem persönlich nutzt. Das geht bis in die persönlichen Beziehungen: Ist das ökonomisch effizient? Sind das die richtigen Leute, die ich kennenlerne, mit denen ich da Kontakt habe?
Kommen wir zur Gretchenfrage: Wie halten es die Jugendlichen mit der Religion?
Heinzlmaier: Was unsere Gesellschaft sehr stark charakterisiert, das ist die Deinstitutionalisierung. Die Menschen wandern aus den Institutionen aus und schaffen sich eigene Strukturen im privaten Umfeld. Das ist die Folge der Individualisierung. Auf die Religion angewandt heißt das, der Glaube wandert aus den Institutionen aus. Was diese Studie sagt, ist ganz typisch dafür. Ich bin ein gläubiger Mensch, aber ich brauche die Kirche nicht dazu. Oder anders ausgedrückt: Ich habe gar kein Interesse daran, so eine persönliche Sache wie den Glauben von irgendeiner Institution regulieren zu lassen. Das mache ich mit mir selber aus. Der Glaube hat viel mit Nützlichkeitserwägungen zu tun; er muss mir helfen. Wenn Jugendliche an irgendetwas glauben, muss man das sehr differenziert aufschlüsseln. Das hat nichts mit dem Glauben im traditionellen Sinn zu tun.
Dieser individualisierte Glaube geht Hand in Hand mit einem großen Bewusstsein für Toleranz.
Heinzlmaier: Was wir heute in unserer Gesellschaft haben und was man mit Toleranz verwechselt, das ist vielleicht mit dem spirituellen Begriff der Mindfullness erklärt. Das heißt, jeder kann machen, was er will – ich mische mich nicht ein. Und verlange dafür, dass der andere sich nicht in mein Leben einmischt. Was wiederum in erster Linie individualisiert und auf sich selbst gerichtet ist – die postmoderne Form der Toleranz.
Die Ordensgemeinschaften Österreich initiieren gerade ein Projekt, das sich Freiwilliges Ordensjahr nennt. Da können Menschen zwischen drei und zwölf Monate in einer Ordensgemeinschaft mitleben.
Heinzlmaier: Ich finde, das ist ein ganz heißes Angebot. In der heutigen Zeit ist alles zu kalt, zu schnell und zu laut. Die Gesellschaft verlangt von uns immer Initiative und mentale Stärke. Aber das ist eine Form der Existenz in der Postmoderne, die erschöpft. Dann hat ein Mensch verschiedene Möglichkeiten: Entweder er treibt es auf die Spitze und bricht zusammen. Oder er flüchtet sich in Depressionen – auch eine Form, wie man eine Überforderung regulieren kann. Oder er hört in sich rein und versucht seinen Ursprung zu finden. Dabei können die Orden helfen. Ich bin überzeugt, wenn sie es geschickt anfangen, gehört den Orden die Zukunft.
Foto und Interview: [rs]
Mag. Bernhard Heinzlmaier, geboren 1960 in Wien, hat Geschichte, Germanistik, Psychologie und Philosophie studiert und ist seit über zwei Jahrzehnten in der Jugendforschung tätig. Er ist Mitbegründer des Instituts für Jugendkulturforschung und seit 2003 ehrenamtlicher Vorsitzender. Hauptberuflich leitet er das Marktforschungsunternehmen tfactory in Hamburg.
In der aktuellen Ausgabe der