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Tod, Trauer und (post)säkulare Funeralkultur

Hannes Benedetto Pircher

 

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Vortrag gehalten auf der Jahrestagung Kulturvermittlung am 30. Juni 2025 in Wien.

 

„Ich bin gläubig, aber nicht religiös.“ – „Ich bin religiös, aber ich glaube nicht an Gott.“ –

„Ich bin nicht gläubig, aber ich glaube an ein höheres Wesen.“ – „Ich glaube nicht an Gott, aber an eine universale Energie.“ – „Ich glaube nicht an Gott, aber daran, dass es etwas Größeres gibt.“ – „Ich bin überhaupt nicht spirituell, aber durchaus religiös.“ – „An Gott glauben wir nicht, aber wir gehen regelmäßig in die Kirche.“ – „Wir sind nicht Christen, aber sehr katholisch. Könnten Sie so etwas Schönes auf Latein beten oder singen? Das wär‘ schön!“ – „Wir sind evangelisch, aber an Gott und solche Sachen glauben wir nicht.“ – „Wir haben mit der Kirche nichts zu tun, aber ein Gebet kann niemals schaden!“ – „Wir sind zwar Agnostiker, aber schätzen die Kirchenkunst. Könnten Sie so was schönes Kirchliches singen, so einen schönen Gesang?“ – „Meine Frau hat nicht an Gott geglaubt, aber das Rosenkranzbeten konnte sie sich nie abgewöhnen.“ – „Wir glauben nicht an Gott, aber das

mit der Caritas ist schon eine gute Sache.“ – „Mein Vater war gottlos, aber er hat immer gebetet.“ – „Wir sind zwar streng katholisch, aber wir wollen keinen Pfarrer haben!“

 

Nur die Heteroglossie des O-Tons vermag eine Ahnung davon zu vermitteln, was Menschen so alles fühlen und denken und wünschen, wenn der Grabgang unerlässlich ist. Die meisten Menschen, die ich in meinem Dienst als Trauerredner begleite, sind nicht Mitglieder einer Kirche oder fühlen sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig. Nur: Die amtlich vermerkte „Konfessionslosigkeit“ sagt nichts, in vielerlei Hinsicht gar nichts über die Gefühlswelten und Wertvorstellungen von Menschen aus, nichts darüber, was oder woran Menschen glauben oder nicht glauben. Woran glaubt, wer nicht glaubt? lautet die titelgebende Frage des 1998 herausgegebenen Büchleins, das einen Briefwechsel von Carlo Maria Martini SJ (*1927, †2012) und Umberto Eco, ein führender Intellektueller Italiens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (*1932, †2016) enthält.[1] Allein in dieser Fragestellung spiegeln sich die Grenzen der hermeneutischen Fruchtbarkeit des entsprechenden begrifflichen Instrumentariums („Glaubende“ – „Nichtglaubende“, „Gläubige“ – „Nichtgläubige“ usw.) wider.

 

Abb. 1: Hannes Benedetto Pircher bei seinem Vortrag in der Kapuzinerkirche Wien

Abb. 1: Hannes Benedetto Pircher bei seinem Vortrag in der Kapuzinerkirche Wien © ÖOK/Teresa Bruckner

 

Diese Grenzen hier näher zu diskutieren, würde den Rahmen meines Vortrags sprengen, sie sollen aber aus dem Vortrag insgesamt deutlich hervorgehen. Wenn also im Folgenden Begriffe wie „Nichtgläubige“ oder „konfessionsfreie Menschen“ verwendet werden, dann wird vorausgesetzt, dass der soziokulturell zu reflektierende Erlebnis- und Erwartungshorizont von Menschen, die längst auch Konsument:innen geworden sind (gerade auf dem Friedhof und am Traualtar), sehr heterogen ist und sich niemals an Kategorien von Verwaltungskanzleien, normativen Dogmatiken gnostischer oder agnostischer Provenienz und auch nicht an jede Interpretation (!) der Ergebnisse repräsentativer Studien der religionssoziologischen Forschung hält.[2]

 

Was ich vorsichtig-verallgemeinernd festhalten kann: Als Trauerredner nehme ich Erwartungen und Gestaltungswünsche von Menschen wahr und ernst, deren Lebenswelten durch Entkirchlichung einerseits und ein hohes Ausmaß an Individualisierung in der Nutzung religiös-spiritueller Ressourcen andererseits bestimmt ist. Die soziologischen Befunde der vergangenen rund 30 Jahre sprechen von der „Mehrfachzugehörigkeit des Individuums“ (Michael Hochschild), von „vagabundierender Religiosität“ usw. Jüngste soziologische Befunde von einer in Europa immer größer werdenden religiösen Indifferenz (Jan Loffeld[3]) sehe ich in keinem ernstzunehmenden Widerspruch zu „religionsproduktiven Tendenzen der Gegenwart“ (Hans-Joachim Höhn) und zu meiner langjährigen Erfahrung als Trauerpsychologe: Meiner Wahrnehmung nach feiern unserentags vor allem Unsterblichkeitsfantasien, ob in Form von „Auferstehungshoffnungen“, Selbstoptimierungfantasien oder Selbstranszendierungspraktiken, fröhliche Urständ, vielleicht in dem Maße, als genannte, durch empirische Sozialforschung erhobene Indifferenz wächst, vor allem aber, wie ich auszumachen nicht umhin kann, in dem Maße, als die meines Erachtens unheilvolle „Privatisierung der Frage nach dem guten Leben“ (Hartmut Rosa) zunimmt bzw. fortschreitet – zumindest in bestimmten sozialen Segmenten unserer „westlichen“ Gesellschaften.[4]

 

Vor dem Hintergrund dieses hier nur anskizzierten Diskurses und aus der Perspektive eines Trauerredners, der in den vergangenen 22 Jahren in rund 7000 Todesfällen Menschen „ohne religiöses Bekenntnis“ dabei unterstützt hat, den im Umgang mit dem Tod bis auf Weiteres unverzichtbaren rites de passage (Arnold van Gennep; *1873, †1957) eine angemessene, weil und insofern lebensfördernde Gestalt zu geben, gehe ich in diesem Vortrag folgenden Fragen nach:

 

1. Was gibt „nichtgläubigen“ Menschen Halt, worin finden sie Trost ‒ an Tagen, die für sie nicht recht hell werden wollen?

2. Über die Bedeutung von Ritualen im Umgang mit dem Tod.

3. Welche genuin religiösen Vorstellungen bzw. Vorstellungsbilder sind für nicht wenige „konfessionsfrei“ Trauernde von besonderer Bedeutung? Eine Betrachtung aus trauerpsychologischer Perspektive.

 

Bevor ich auf diese Fragen eingehe, will ich kurz meine hauptsächliche Aufgabe und mein Selbstverständnis als Trauerredner konturieren: Ich verstehe das funeralrhetorische Handwerk als Dienst am Menschen. In einem auf Tage, bis hin zu zwei bis drei Wochen beschränkten Zeitraum begleite ich Menschen in Hinblick auf die zu gestaltende Trauerfeier, d. h. in dieser menschenbegleitenden, im Wortsinne diakonischen Aufgabe denke ich durchaus strategisch auf das Wahrnehmungsereignis „Abschiedsfeier“ hin und stelle dabei, naturgemäß, die wichtigste Frage jeder Produktions- wie Rezeptionsdramaturgie: Kann wahrgenommen werden, was wahrgenommen werden soll? Und, bezogen auf die existentielle Beschaffenheit der Abschiedssituation als solcher, die nicht notwendig eine Trauersituation sein muss: Kann das, was faktisch wahrgenommen wird, dem Leben in den Seelen aufhelfen? Den entsprechenden humanistischen Imperativ, der meinen Dienst leitet, möchte ich mit Rupert Lay SJ (*1929, †2023) so fassen: „Handle so, dass du das personale (soziale, emotionale, musische, sittliche, spirituelle) Leben in dir und anderen eher mehrst und entfaltest denn minderst und verkürzt.“[5]

 

1. Was gibt „nichtgläubigen“ Menschen Halt, worin finden sie Trost ‒ an Tagen, die für sie nicht recht hell werden wollen?

 

Woran Menschen „ohne Bekenntnis“ glauben, was ihnen Halt gibt in Verlusterfahrungen, lässt sich am deutlichsten erschließen aus den Trostgedanken, an denen sich Menschen festhalten wollen und können, wenn sie von einem geliebten Menschen Abschied nehmen müssen. Daher will ich im Folgenden die entsprechenden Gedanken(-bilder) und Vorstellungswelten anskizzieren.

 

Zuvor aber will ich kurz auf eine Frage eingehen, die mir immer wieder gestellt wird: Kann man als Trauerredner, der z. B. auf eine christliche oder buddhistische Lebens- und Todesdeutung verzichten muss, Trauernden überhaupt Trost spenden? Diese Frage ist eine gute, denn immerhin ist die Tröstung, die consolatio – neben der laudatio – seit jeher Teil des Kerngeschäfts der Funeralrhetorik, zumindest seit Dióne die Aphrodite nach dem Tod des Aineas zu trösten versuchte (Homer hat in seiner Ilias ganz auf die Kraft der Poesie gesetzt). Also: Kann man? Möglich ist es.

 

Dabei unterscheide ich grundlegend zwischen (I) den Weisen der Trostspendung auf der Ebene des Seins und des Dienstethos und (II) den Weisen der Trostspendung auf inhaltlicher Ebene, mithin der Ebene verbaler „Rationalisierung“:

 

Ad I: „Trostreich“ kann ich Menschen sein, weil und insofern ich sofort zur Stelle bin, wenn ich gebraucht werde, weil und insofern ich als ganzer Mensch zur Stelle bin, schließlich weil und insofern ich auf einfühlsame Weise und im Sinne der Angehörigen meine Aufgaben wahrnehme. Hier geht es also allein um mein Sein, um mein Dienstethos und, damit einhergehend, natürlich auch um professionelle, weil vor allem soziale Kompetenzen (als Voraussetzung dafür, diesen Dienst zu tun): Höre ich Menschen aufmerksam zu? Höre ich ihnen genau und unaufdringlich zu? Bin ich in der Lage, Emotionen zu verstehen? Weiß ich um die Veränderbarkeit von Emotionen? Kann durch meine Art und Weise präsent zu sein, ein Raum des Vertrauens entstehen, in dem Menschen so sein dürfen wie sie sind oder sein wollen? Der Trostbecher, der auf dieser Ebene gereicht werden kann, ist vergleichbar mit jenem, den die Kyniker zu reichen versucht haben: Wache und menschlich kluge Präsenz als konkrete, alltagsweltliche Hilfe in einer schweren oder haltlosen Situation – versus philosophische Erörterungen, die den Menschen erklären, wie sie mit ihren Affekten, ihrer Endlichkeit und ihrer Unfähigkeit sich selbst auszuhalten, umgehen sollen (in der Art von Seneca oder auch Epikur).

 

Allein die Gespräche zur Vorbereitung der Trauerfeier werden von Angehörigen oftmals als tröstlich empfunden, weil sie Halt geben. Nach einer ersten, kurzen Kontaktaufnahme via Telefon meinte die Witwe: „Ach, jetzt bin ich beruhigt! Mit Ihnen habe ich ein gutes Gefühl!“ Oder: „Jetzt fürchte ich mich nicht mehr so vor dem Tag der Begräbnisfeier. Jetzt ist mir leichter ums Herz.“ Oder: Auf die Frage, was ihr in den dunklen Tagen tröstlich war, sagte eine junge Mutter, die ihr Kind verabschieden musste: „Menschen, die einfach da waren und normal, das heißt alltäglich mit mir umgingen und mich nicht mieden. Besonders hilfreich war es, wenn Menschen meine Geschichte ruhig anhören konnten.“

 

Ad II: Auf der inhaltlichen Ebene der Rede selbst kann ich nur jenen Trost explizit ins Wort heben, den die Angehörigen sich selbst zusprechen wollen und/oder können. Genauerhin: Nur wenn ich wirklich spüren kann, dass Angehörige in diesem oder jenem Gedanken tatsächlich Halt und Trost finden, hebe ich diesen bestimmten Gedanken auch ins Wort. Ich muss also Menschen glauben können, worin sie tatsächlich Trost finden. In der Tat habe ich bisher kein weniger subjektivistisches Kriterium für diese „Unterscheidung der Geister“ gefunden als (lediglich) mein diesbezügliches „Spüren“.

 

Nun: An welchen Trostgedanken halten sich Trauernde „ohne Bekenntnis“ tatsächlich fest? Diese Trostgedanken lassen sich auf eine sehr verallgemeinernde Weise in drei hauptsächliche Gedankenkomplexe auffächern. Selbstredend holt die folgende Kategorisierung nicht alle Facetten von Trostgedanken ein. Auch gehe ich im Folgenden nicht auf Trostgedanken wie diese ein: „Nun bist du erlöst von deinem Leid!“ Oder: „Sie ist gestorben, wie sie sich das immer gewünscht hat. Plötzlich und ohne Schmerzen. Sie ist friedlich eingeschlafen. Schön für sie!“

 

Abb. 2: Blumen vor einem Sarkophag in der Kapuzinergruft © ÖOK/ Elisabeth Mayr-Wimmer

Abb. 2: Blumen vor einem Sarkophag in der Kapuzinergruft © ÖOK/ Elisabeth Mayr-Wimmer

 

„Dein sinnerfülltes Leben ist unser einziger Trost!“

 

Erster Gedankenkomplex: „Dein sinnerfülltes Leben ist unser einziger Trost“, lese ich auf der Parte. Oder: „Seid versichert, ich habe das Leben in seiner wunderbaren Fülle erleben dürfen.“ Worin aber muss ein gutes und sinnerfülltes Leben bestehen, damit Trauernde sich durch dieses wirklich trösten können? Die Antworten, die die meisten Menschen, denen ich zuhöre, auf diese Frage geben, spiegeln sich grosso modo in folgendem Gedanken wider, der einmal eine Parte schmückte – ein Wort des Physikers Hans-Peter Dürr (*1929, †2014): „Unsterblich ist der Mensch immer da, wo er als Du in dieser Welt aufgetreten ist. In Beziehungen. Im Lieben.“ Auch folgender Gedanke spricht vielen Menschen aus dem Herzen: Je vollständiger das Leben ist, das wir leben, je mehr wir unsere schöpferischen Möglichkeiten verwirklichen, umso weniger Angst haben wir vor dem Tod. Wenn Trauernde ihren Toten glauben können, dass deren Leben „ein in jedem Betracht vollständiges“ (Johann W. Goethe) war, können sie den geliebten Menschen leichter „gehen lassen“. Die Erfahrung hat mich gelehrt: Die Menschen fürchten sich nicht so sehr vor dem Tod als solchem, sondern davor, dass ihr Leben unvollständig oder gar ungelebt bleiben könnte. Es ist und bleibt immer ungelebtes Leben, das am wenigsten abtreten will. Marcus Porcius Cato (*234 v. Chr., †149 v. Chr.) reicht den entsprechenden Trostbecher auf der Parte so: „Am ähnlichsten ist das menschliche Leben dem Eisen. Gebraucht man es, nutzt es sich ab. Gebraucht man es nicht, verzehrt es der Rost.“

Sowohl aus der Welt der Gnostiker als auch aus jener der Agnostiker vernehme ich: „Man muss das hervorbringen, was in einem ist, sonst bringt einen das um, was man nicht hervorbringt.“ Verlassen wir aber das ferne Kappadokien und kehren nach Wien zurück: Ein 98-jährig Verstorbener hat für den Fall seines Todes seinen Angehörigen einen kleinen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er auf ein gutes, erfülltes Leben zurückblickt. Wie nun aber hat dieser alte Mann näherhin bestimmt, warum sein Leben ein gutes war. Er schreibt: „Ich war mit Menschen zusammen, die ich geliebt habe und die mich geliebt haben. Ich hatte gute Freunde und einen Beruf, der mir Freude gemacht hat. Was will man mehr?“ Dieser 98-jährige Herr hat in wenigen, einfachen Worten ausgedrückt, was die Glücksforschung in teuren Studien jedes Jahr aufs Neue ans Tageslicht befördert: Glücksempfinden sei wesentlich gebunden an das Gefühl, einer Gemeinschaft zuzugehören, an Freundschaft, an Anerkennung, die man durch seine Mitwelt erfährt, an Erfahrung von Selbstwirksamkeit, und an eine selbstbestimmte Arbeit, wo Eignungen und Neigungen einen Platz haben und gefordert sind.

 

Solche Trostgedanken sind recht mühelos ermittelbar über die Antworten, die Menschen aufrichtig auf die Frage geben: Worum gehtʾs im Leben? Die Schriftstellerin Barbara Frischmuth antwortet auf diese Frage: „Darum, die Fähigkeiten, die man als Mensch hat, auszubauen und zu nützen. Mit seinen Fähigkeiten etwas wahrzunehmen, zu erkunden, was einen umgibt, und vielleicht auch zu erkennen.“[6] Auf die Frage, was es für ein geglücktes Leben brauche, antwortet der Schriftsteller Richard Ford: „Das Gefühl, von einem anderen Menschen geliebt zu werden. Und die Fähigkeit, jemand anderen zu lieben [...] Die Fähigkeit, sich um jemand anderen zu sorgen.“[7] Auf die Frage, worin denn Lebenskunst bestehe, antwortet der Dramaturg, Regisseur und Theaterintendant Joachim Lux: „Es geht darum, die Achttausender, von denen man weiß, dass man sie nie mehr besteigen wird, trotzdem im Blick zu behalten.“[8]

 

Bemerkenswerterweise spiegelt sich in all diesen Gedanken wider, was spätestens seit Aristoteles (*384 v. Chr., †322 v. Chr.) dem Traditionsstrom einer Philosophie des guten Lebens eingeschrieben ist: Ein gutes, ein gelingendes Leben ist eines, in dem man in tiefen persönlichen Beziehungen lebt. Und wir sind dann mit unserem Leben zufrieden, wenn wir etwas tun können, und zwar etwas, was (a) unseren Eignungen und Neigungen entspricht, und (b) etwas, was für andere Menschen wichtig ist und in deren Leben zählt. Richard Ford sprach vom Glück aus der „Fähigkeit, sich um jemand anderen zu sorgen“. Und mein verehrter Lehrer Umberto Eco (*1932, †2016) sagte kurz vor seinem Tod: „Ich kann meinem Leben und meinem Tod einen Sinn nur geben, mich nur dann getröstet fühlen – durch die Liebe zu anderen, durch den Versuch, jemand anderem ein lebenswertes Leben zu ermöglichen, auch wenn ich selbst nicht mehr da bin.“ Damit ist grosso modo umrissen, was Aristoteles unter eudaimonía verstanden hat.

 

„Worauf kommt es im Leben an?“ „Worum gehtʾs im Leben?“ „Wofür lohnt es sich zu leben?“ Meine Erfahrung lehrt mich: Wenn sich Menschen diese Fragen stellen bzw. sich diesen Fragen stellen, denken sie das Diesseits des Todes immer als ein Jenseits des Lebens, unbewusst, gewissermaßen antizipatorisch, in kontrafaktischer Fiktionalität (Wolfhart Pannenberg; *1928, †2014), die hierfalls vor allem dafür sorgt, dass das, wovon wir glauben, worauf es im Leben ankommt, Relevanz für unsere jetzige Lebensführung hat. Die meisten Menschen, denen ich diene, glauben nicht an das „Jüngste Gericht“ der Theologen, umso leidenschaftlicher aber an das „Jüngste Gericht“, das vom Ich errichtet wird, das nicht nur – wie Sigmund Freud meint – im Unbewussten von seiner Unsterblichkeit überzeugt ist, sondern das sich nicht anders sehen kann denn als diejenige Instanz, die darüber richtet, was im Leben zählt und was nicht. Wenn wir, zumal auf uns selbst nachrufend, uns damit beschäftigen, von wem wir wie gesehen werden wollen, setzen wir Ideen des Guten, des Schönen, des Gerechten etc. voraus und hypostasieren diese Ideen, vorzüglich unter der Sonne von Amalfi und beim Weine – Mehercule –, zu „Göttern“, die „überleben“ können müssen. Warum müssen? Wenn wir schon nicht unseren eigenen Tod überleben können, so wünschen wir doch aufs Innigste, dass unser Sichtwunsch vom Leben und die Deutung unseres Lebens überleben möge. Die eigene Deutung des Lebens wird zum obersten Gerichtshof, von dem wir ein Urteil, und zwar ein (verdächtig?) objektives über unsere ganze Existenz erwarten. Die vielen unterschiedlichen Antworten auf die eine Frage „Worum gehtʾs im Leben?“ sollen uns überleben können.

Unsterblichkeitsfantasien: Diese uns überlebenden „Götter“ nehmen in Nachrufen auch gern die Gestalt des Trostes an, an der sich diejenigen, welche zurückbleiben, festhalten können oder wollen. Wie beispielsweise könnte der Trost ausschauen, wenn auf die Frage „Worum gehtʾs im Leben?“ die Antwort (des Toten) lautet: „Darum, eine gute Zeit zu haben. Und schöne Frauen kennenzulernen“, wie der Hirnforscher und Nobelpreisträger Eric Kandel einmal sagte.[9]

Oder: Ein sehr beleibter und sehr fröhlicher Herr war die inszenatorische Mitte der Trauerfeier. Dieser Herr war der beste Freund des Toten, dessen Lebens-Leiberl er auf dem wundervollsten Bauch, den ich je gesehen habe, zur Schau trug. Auf dem Leiberl war, mit Kater Garfield, das „Lebensmotto“ des Toten zu lesen: „Es muss doch im Leben etwas anderes geben außer Fressen und Schlafen – ich hoffe aber nicht.“ Am Trostverhalten der Angehörigen war ablesbar, dass die Hoffnungen des Toten nie enttäuscht worden sind. In konsolatorischer Hinsicht finden die meisten Menschen heutzutage nicht den Gedanken an die „ökologische Unsterblichkeit“[10] attraktiv, vielmehr den Gedanken an die Unsterblichkeit der vielen Gerichtshöfe des bilanzierenden Ich. By the way: Die Unsterblichkeit des Gottes Karbonat („Diamantbestattung“) sucht und findet sich selbst in nichts anderem als in der Lust daran, eine betrügerische zu sein. Der Kater Garfield und die Kandelschen schönen Frauen sind um Ungleiches unsterblicher.

 

Kleiner Exkurs: Gibt es auf die Frage, worin ein gutes, ein gelingendes, ein sinnerfülltes Leben besteht bzw. bestehen könnte, verallgemeinerbare oder „nur“ subjektive, individuelle Antworten? Vorderhand sind wir vielleicht geneigt zu sagen: Was ein gutes Leben ist, muss jeder für sich selbst entscheiden. Was als ein gelingendes Leben erlebt wird, hängt vom einzelnen und seinen Erwartungen an das Leben ab. Darüber lässt sich nichts
Verallgemeinerbares sagen. ‒ Wirklich nicht? In meinem langjährigen Dienst als Trauerredner habe ich eine ganz wertvolle Erkenntnis gewonnen: Sowohl aus der Perspektive von Sterbenden, die auf ihr Leben zurückblicken als auch aus der Perspektive von Menschen, die schwere Verlusterfahrungen machen, erschließen sich uns erstaunlich verallgemeinerbare Antworten auf die Frage nach dem guten Leben. Ferner: Menschen, die wissen, dass sie bald sterben müssen, bereuen vornehmlich dasselbe, was Menschen vornehmlich bereuen, denen bewusstwird, dass das, was sie in der gelebten Beziehung zum Verstorbenen versäumt haben, nicht nachgeholt werden kann. Der Soziologe Hartmut Rosa, der sich mit großem Forschereifer dem Thema „gutes/gelingendes Leben“ widmet, berichtet: „Als meine Großmutter im Sterben lag und gefragt wurde, was sie in ihrem Leben anders machen würde, wenn sie es noch einmal leben könnte, meinte sie: Nicht viel. Aber sie hätte nicht mehr so viel Angst. Diese Aussage ist erstaunlich verallgemeinerbar: Sich weniger gesorgt und mehr um die Freunde gekümmert zu haben, ist ein Wunsch, den viele Menschen rückblickend für ihr Leben haben.“[11]

Bemerkenswert ist, dass sich glaubwürdige und verallgemeinerbare Antworten auf die Frage nach dem guten Leben mir immer dann besonders zeigen, wenn nicht um den Toten getrauert wird, sondern wenn die Angehörigen sich selbst betrauern, vor allem in den gar nicht harmlosen Formen von Selbstbetrauerung.[12]

Was belastet „Hinterbliebene“ besonders – angesichts der als abgründig gefühlten Endgültigkeit, ihre Beziehung zum Verstorbenen nicht mehr „gestalten“ zu können, Nichtgelebtes in dieser Beziehung nicht nachholen zu können? Was bereuen Menschen am meisten, wenn ihnen bewusstwird, dass es auch einmal zu spät sein kann? Ich habe tausende Trauergespräche geführt. In den meisten Fällen, die hier zur Frage stehen, werden Versäumnisse beklagt, die als eindeutiges Indiz dafür zu deuten sind, dass das gute Leben vor allem mit einer Kultur (1) der Dankbarkeit, (2) der Freundschaft, (3) der Versöhnung, (4) des Mutes (Tapferkeit), (5) der Ehrlichkeit (vor allem auch sich selbst gegenüber) und (6) mit einer Kultur der liebenden Aufmerksamkeit zu tun haben muss. – Im Kapitel „Was wir sind, werdet ihr sein, wir waren, was ihr seid“ meines Buches vertiefe ich mit lauter O-Tönen, also an konkreten Beispielen diese Kulturen oder Nichtkulturen, um verallgemeinerbaren Antworten auf die Frage nach dem guten Leben nachspüren zu können.

 

Hier darf ich lediglich einige Beispiele zum Thema „Kultur der liebenden Aufmerksamkeit” bringen: Der junge Primar einer Privatklinik, der bei Kolleg:innen und Patient:innen höchste Wertschätzung und Anerkennung genoss, hat sich das Leben genommen. Seine Ehefrau:

„Warum nur habe ich meinem Mann nicht wirklich zugehört [...]? Er hätte meine ganze Unterstützung gebraucht, um aus diesem schrecklichen Karriere-System aussteigen zu können. Anstatt ihm wirklich zuzuhören, habe ich mich darauf fixiert, auf seine Eltern sauer zu sein, die er nie losgelassen hat. Die haben das ja begonnen, dieses System. Er hat immer nur die Erwartungen seiner Eltern erfüllt, nie durfte er er selbst sein. Hätte ich ihm wirklich zugehört, dann würde er noch leben.” Es ist klar, dass es hier nicht nur um das Thema „Aufmerksamkeit” geht, sondern auch um das Thema „Mut”. Und weitere Themen. Oder: Ist ein junger Mensch zu begraben (Suizid), der schon seit Jahren auf seine vielen inneren Nöte aufmerksam gemacht hat – im Abschiedsbrief heißt es unter anderem: „Ich möchte in die Welt hinausschreien, dass es mir Scheiße geht, aber das interessiert sowieso niemanden!“? Oder ist der Amokläufer zu begraben, der seine argen Schmerzen längst herausgeschrien hatte – nur halt hinein in die nichtigen Resonanzräume der sogenannten Sozialen Medien:

„Ich werde den Rest meines Lebens nicht mehr als ein abgefuckter Loser sein. Mir ist alles egal. Das ist die Hölle, wenn alles egal ist [...] ICH HASSE ALLES!!! [...] Was tue ich hier eigentlich noch?“? Oder wie schaut eine SMS von Kindern aus, die Zuflucht beim IS suchen, um die Frage beantwortet zu bekommen: „Was tue ich hier eigentlich noch?“? – Zumindest am Rande sei hier angemerkt: In meinem Dienst begegnet mir kein „Thema“ häufiger als das der Versöhnung.

 

Das Gedächtnis der Nachwelt

 

Zum zweiten Gedankenkomplex, aus dem nicht wenige Menschen Trost schöpfen: das Gedächtnis der Nachwelt, der Nachruhm, die mit zwei oder drei Trichtern ausgestattete Posaune der Fama. Nigel Barley meint: „In einer Kultur, die weder an ein Leben nach dem Tod noch an eine Wiedergeburt glaubt, ist das Gedächtnis der Nachwelt der einzige Zufluchtsort für die persönliche Identität“.[13] Etwa so, wie Denis Diderot (*1713, †1784) das gute alte praemium virtutis als schönste Unsterblichkeit anträumt: „Die Gewissheit, dass künftige Jahrhunderte auch von mir sprechen werden, dass sie mich zu den illustren Männern meiner Nation zählen und dass mein Leben meinem Jahrhundert ... zur Ehre gereicht, wäre für mich, ich gebe es zu, viel süßer als alle gegenwärtigen Ehrungen, alle Lobeshymnen“.[14]

 

Diese Art von Unsterblichkeitsfantasien sind häufig verbunden mit Begriffen wie Erfolg, Karriere, Lebenswerk, Steigerung von Optionen und Wettbewerbsfähigkeit. In einer Todesanzeige lese ich: „Die Erinnerung an Erfolgreiche, die aus Begeisterung etwas schaffen, wird der Welt erhalten bleiben.“ Oder: „Sie wird mit und in der Stiftung weiterleben.“ Welch große Rolle Leistung und gesellschaftliches Ansehen im Werteempfinden von vielen Menschen heute spielt, spiegelt sich etwa auch darin wider, dass ich von Angehörigen nicht selten Sätze wie diese höre: „Schaun Sʾ, im Leben meines Vaters gab es nix Sensationelles. Er war ein einfacher Hausmeister. Nicht einmal nach Mörbisch zur Operette ist er gefahren.“ Oder: „Was soll ich Ihnen erzählen? Aus dem Leben meiner Mutter gibt es nichts Besonderes zu berichten. Sie war ja immer nur Hausfrau und Mutter.“ Woraufhin ich dann manchmal doch vorsichtig entgegne: „Man muss ja nicht Schönheitskönigin von Gramatneusiedl gewesen sein, nicht das Penicillin entdeckt oder einen Krieg angezettelt haben, damit man dann, wenn man tot ist, jemand gewesen ist. – Was war Ihre Mutter Ihnen? Wofür möchten Sie ihr danken?“

 

„Auf Wiedersehen in einer besseren Welt!“

 

Der dritte Gedankenkomplex, aus dem nicht wenige Menschen „ohne Bekenntnis“ Trost schöpfen, gründet in der Vorstellung bzw. Hoffnung, dass es nach dem Tod doch eine Art von Weiterleben bzw. ein ganz neues Leben geben möge, eine Art von Neugeburt.[15] „Auf Wiedersehen in einer besseren Welt!“ Oder: „Wir hoffen, dass du jetzt in einer Welt bist, wo du endlich glücklich sein darfst!“ – Solche und ähnliche Gedanken hat auch der vornehmlich für die „nichtkonfessionelle Trauerfeier“ zum Dienst gerufene Trauerredner sehr ernst zu nehmen.

Mein betont sozialanthropologischer Betrachterblick (vor allem mit Mary Douglas; *1921, †2007), den ich seit 22 Jahren zwischen Grabstelen und Trauerflor schweifen lasse, kommt zum kaum überraschenden Ergebnis: Bei aller amtlich vermerkten „Konfessionslosigkeit“ begegne ich sehr oft dieser Art von Jenseits- und Unsterblichkeitsvorstellungen. Wie aber das?

Nun kann man darauf antworten, indem man darauf verweist, wie schnell das vernünftige Tier namens Mensch nach Metaphern und mit diesen nach Himmeln greift, wenn es in existentielle Haltlosigkeit gerät oder nicht in der Lage ist, sich selbst und die Zeit auszuhalten. Man kann sich in Erinnerung rufen, dass die aufgeklärte Vernunft sich selbst und uns manchmal heillos zu überfordern scheint. Man kann die Grenzen der wissenschaftlichen Vernunft benennen, beispielsweise mit Ludwig Wittgenstein (*1889, †1951): „Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“[16] Wahrlich: Wir kommen mit unseren (guten) Gründen immer an ein Ende. Nur kommen wir mit uns selbst an gar kein (einfaches) Ende.

 

Existentielle Haltlosigkeit? Ja. Aber das klingt sehr vage. Ich versuche, einen besonderen Grund, der für Auferstehung und Himmelfahrt konfessionsfreier Toten sorgen kann, genauer

zu bestimmen. Auf diesen Grund stoßen wir, wenn wir uns fragen: Wann fällt es uns besonders schwer, einen Menschen gehen zu lassen?

Ich denke zunächst an den „zu frühen Tod“, vor allem, wenn Kinder sterben. Sein eigenes Kind zu überleben, wird als „wider die Natur der Dinge“ erlebt. „Es fühlt sich einfach nicht richtig an, wenn Kinder sterben“, höre ich immer wieder. Solche Verlusterfahrung zerreißt in der Tat das Herz. Man kann es nicht anders als in diesem Bild sagen.

Sodann ist es der „sinnlose Tod“, der den meisten Menschen schwer zu schaffen macht. Ich denke an all jene Menschen, die von Menschen für utilitaristische Ziele todverbraucht werden, zum Beispiel auf den vielen „Arbeitsplätzen“, welche die kapitalistischen Sklavenhalter eingerichtet haben. Und das klassische Beispiel aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts: Was macht, beispielsweise, der politische Totenkult der Weimarer Republik? Dem sinnlosen Tod, der im Ersten Weltkrieg auf dem Schlachtfeld millionenfach gestorben wurde, wird nachträglich Sinn zu geben versucht, um (möglichst) bald auch schon wieder an Krieg denken zu können: „Im Felde unbesiegt!“ – „Ihr seid nicht umsonst gestorben!“ Warum ist der Mensch so schnell bereit, an die „Auferstehung“ der „Blutzeugen der Bewegung“ zu glauben, wie der Totenkult heißt, in dem der Nationalsozialismus sein zentrales politisches Ritual fand – wie Jan Assmann (*1938, †2024) betont?[17]

 

„Das fühlt sich einfach nicht richtig an“, haben wir gehört. Was begehrt dieses Gefühl? Es begehrt Gerechtigkeit. Es scheint, dass auch Fernseh-Zuschauer:innen unserer Tage, die sich am Sonntagabend den „Tatort“ anschauen, sich gar nicht so weit entfernt von jener Lebens- Dimension aufhalten, in der Fragen entstehen, die bereits das altägyptische Denken herumgetrieben haben müssen, als es wagte, an ein Totengericht mit einem gerechten Ausgleich zu glauben.

 

Der Auferstehungsgedanke ist ein Kind, das nicht durch eine Geburt (oder Offenbarung) zur Welt gebracht wurde. Eine seiner Geburten erkenne ich in des Menschen Nicht-Bereitschaft, vielleicht gar Unfähigkeit, Ungerechtigkeit als absolut endgültig zu akzeptieren. Die Auferstehungshoffnung des Christentums weicht heute, in der „westlichen Postmoderne“, einer bunten Vielfalt an Ausformungen einer Auferstehungshoffnung. Und ich vermute: Solange wir Menschen nicht bereit sind, eine prinzipielle Absurdität der Welt zu denken, solange wir Menschen nicht bereit sind, verhungernde Kinder achselzuckend zu akzeptieren,

solange wir Menschen nicht bereit sind, menschenverachtende Systeme als bloßes Spiel von faktischen Kräften zu betrachten, wird der Mensch nicht darauf verzichten können, eine Art von „Wiedergutmachung“ oder eben „Auferstehung“ zu begehren. Zumindest für bestimmte Tote.

 

Für meinen geschätzten Lehrer Gerd Haeffner SJ (*1941, †2016) gibt sich der ganze Mensch unter anderem auch so zu erkennen: „Die Rede von der Unsterblichkeit (oder von der ›Auferstehung‹) ist weder am Kaffeetisch noch am Schreibtisch entstanden. Erst dort aber wird sie zum neutralen intellektuellen ›Problem‹. Als solches ist sie schon deswegen nicht entscheidbar, weil man sich dabei nicht in jener Lebens-Dimension aufhält, in der, wenn überhaupt, eine Art von Einsicht in dieser Frage entstehen kann: Mag diese Einsicht nun Ahnung oder gar feste Zuversicht heißen.“[18] – Die vielen Gespräche, die ich als Trauerredner mit „nichtgläubigen“ Menschen führe, lehren mich, dass das gute Leben eher dadurch befördert wird, eine Ahnung oder feste Zuversicht zu haben, als durch wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse, die unsere Lebensprobleme noch gar nicht berühren (Ludwig Wittgenstein).

 

Ich will noch einen weiteren Aspekt dieses dritten Gedankenkomplexes „Neues Leben“ anschneiden: Zwar nicht oft, aber immer wieder und immer öfter treffe ich bei Trauernden auf einen Trostgedanken, der auf einer dem zyklischen Gedanken entstammenden Vorstellung von Unsterblichkeit beruht, eine Vorstellung, welche sich manchmal auch ausdrückt in einer ausgeprägten Sympathie für buddhistische Lebensweisheiten. Stichwort Wiedergeburt.

Und schließlich gibt es auch noch so etwas wie das Glauben(-wollen) an die „Ewigkeit der Moleküle“ oder das, was ich unter „ökologischer Unsterblichkeit“ in meinem Buch analysiert habe.[19] Manche wenige Menschen, die ich begleitet habe, haben in dieser Vorstellung durchaus Trost und Halt gefunden. Dennoch lässt mich meine Erfahrung die Skepsis von Nigel Barley teilen: „Ökologen behaupten vielleicht, Trost aus dem Bewußtsein zu schöpfen, daß sie für alle Zeit in die Zyklen von Kohlenstoff und Stickstoff eingebunden bleiben, und Genetiker mögen selbstgefällig auf die Ewigkeit ihrer DNS pochen; aber viel Breitenwirkung entfaltet diese reduktionistische Sichtweise nicht. Jeder will in den Himmel kommen, aber sterben will niemand.“ Und was jene Glaubensvorstellungen betrifft, „die den Akzent eher auf Gänseblumenketten aus Ereignissen“, also auf lineare Zeitabfolgen legen, teile ich ebenfalls die Einschätzung von Barley: „Jede Gerade wird, wenn sie lang genug ist, zu einer Art von Kreis.“[20]

 

Kapuzinerkloster Wien

Abb. 3: Seitenkapelle der Kapuzinerkirche Wien mit Marmoraltar und Pietà von Peter Strudel (*um 1660, †1714)
© ÖOK/Karin Mayer

 

2. Über die Bedeutung von Ritualen im Umgang mit dem Tod

 

Warum ist ritualisiertes Handeln im Umgang mit dem Tod und den Toten bis auf Weiteres unverzichtbar? Von welcher Relevanz bzw. Erklärungskraft ist die Unterscheidung zwischen „religiösen“ bzw. „kirchlichen“ und „weltlichen“ Abschiedsritualen? Meine These gleich vorweg: Rituale „sprechen“ bzw. konstituieren soziale Wirklichkeit – selbstreferentiell, unabhängig von semantischen Zuschreibungen jeder Art, etwa auch religiöser Natur. Auf den Rücken des Ritus setzt sich jeder Mythos – nicht umgekehrt![21]

 

Diesen Fragen gehe ich im Folgenden nach, indem ich zunächst unserer szenischen Fantasie etwas Nahrung gebe: Während unseres Gesprächs betonte die Witwe mehrmals, dass ihr verstorbener Mann überzeugter Atheist gewesen sei, dass sie selbst ebensolche Atheistin sei und also die Trauerfeier im Allgemeinen und der Leichensermon im Besonderen dementsprechend gestaltet sein solle: „Es soll nix an Gott, an die Kirche und an die Pfarrer erinnern!“ – „Kein Problem!“, beruhigte ich die Witwe. Als ich mich nach dem zweistündigen Gespräch von der freundlichen Dame verabschiedete, vergewisserte sie sich bei mir, mit einem Gestus höchster Dringlichkeit: „Aber ein Vaterunser beten wir schon, nicht wahr?!“

 

Abgesehen davon, dass eine Trauerfeier, sei sie eine „kirchliche“ oder eine „weltliche“, allein aus kultur-, sozial- und theateranthropologischer Perspektive von Liturgie und ihren vielen Sprachen nur so strotzt, stellt sich hier die Frage, ob die Ansage „Nix Gott, Kirche, Pfarrer – aber Vaterunser unbedingt!“ unter welchem Gesichtspunkt einen Widerspruch darstellt oder nicht.

 

Keinen Widerspruch stellt diese Ansage dar, wenn man sie schlicht als Ausdruck dessen interpretiert, dass die meisten Menschen nicht darauf reflektieren, wie sie ihre Kontingenz in den Tod hinüberschupfen wollen oder hinüberschupfen können. Das Leben ist auch für manchen vorgeblichen Atheisten zu kompliziert, und die meisten Menschen sind schlicht zu träge, um ihre Gedanken vor den Gerichtshof intellektueller Redlichkeit zu schleppen. Diese Ansage stellte also nur dann einen Widerspruch rationaler Art dar, wenn man davon ausgehen könnte, dass die „atheistische Kundin“, die das Vaterunser wünscht, dieses als Gebet, das sich an einen (personalisierbaren) Vater-Gott richtet, identifizieren könnte oder wollte.

Ferner ‒ und das ist für meine folgenden Überlegungen entscheidend! ‒ stellt diese Ansage keinen Widerspruch dar, wenn das Vaterunser als Teil ritueller Sprache beziehungsweise als Ritus seinen Dienst tun soll. Mein Befund: Das Vaterunser wird oftmals deshalb gewünscht, weil ‒ nicht nur auf dem Friedhof ‒ keine Sprache besser weiterhilft als der Ritus, diese wunderbarste Heimat des Fraglosen und Antwortlosen, gerade in seiner Formelhaftigkeit.

Gerade erprobte und strukturierte Rituale bzw. Riten, das, was man irgendwie kennt, ohne es wirklich zu kennen und kennen zu müssen, weil und insofern formelhaft, vorgegeben und vorgezeichnet, kann Halt geben an Tagen, die nicht recht hell werden wollen bzw. Haltlosigkeit bedeuten.[22] „Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht!“ Oder: „Ich kann seit Tagen keinen klaren Gedanken fassen, besprechen Sie sich mit meiner Freundin. Mir ist das alles zu viel.“ ‒ Ich teile die Ansicht von Walter Burkert (*1931, †2015): „Man braucht und gebraucht Ritual als Vorzeichnung, Formgebung, Stilisierung des Notwendigen, um über die individuelle Ziellosigkeit und Depression hinwegzukommen. Man macht mit, man nimmt teil, man läßt es geschehen [...]“.[23]

Was ich in meinem Buch Das Theater des Ritus: De arte liturgica zur Bedeutung und den Funktionsweisen ritueller Praxis und Poiesis ausgeführt habe,[24] darf ich hier in gebotener Kürze so zusammenfassen: Der Ritus bietet Verhaltenssicherheit an sehr unsicheren Tagen. Der Ritus vereinfacht das Komplizierte und überfordert uns nicht länger mit dem Unüberschaubaren. Der Ritus stiftet persönliche und kollektive Identität, ohne dass wir wissen müssen, was diese Identität ist oder sein soll. Der Ritus erlaubt uns, mit uns selbst und unseren inneren Widersprüchen über alles Rationale hinauszuwuchern – meistenfalls durchaus zu unserem Seelenheil. In seiner Formelhaftigkeit, Stereotypie, Stilisierung und symbolischen Ordnungskraft entlastet der Ritus vom Druck, Worte finden zu müssen für etwas, das sprachlos macht. Der Ritus entlastet uns ferner vom Druck, wissen zu sollen, wie es uns geht. Der Ritus entlastet uns schließlich vom Druck, „authentisch“ sein zu sollen. Der Ritus befreit aus jeder Form von „Intimitätstyrannei“ (Richard Sennett).

Auch sorgt der Ritus als Ort des eminent Öffentlichen auf dem Friedhof manchmal dafür, dass zur Entlastung der Tieftrauernden deren individualistische Trauerburgen entprivatisiert werden und zugleich „am Rand“ die schönsten Tränen fließen dürfen (naturgemäß auch in allen Formen der Selbstbetrauerung). Was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass der Ritus seine besten, ihm treuest verbündeten Handlanger im limbischen System sitzen hat: Menschen weinen nicht nur, weil sie traurig sind, sondern sie sind auch traurig, weil sie weinen. Schon der hl. Augustinus von Hippo (*354, †430) hat diese Gesetzmäßigkeit erkannt, die dann beim Schauspielmethodiker Konstantin S. Stanislawski so daherkommt: „Machʾ die Geste! Das Gefühl folgt nach!“

Die wesentlichen Gelingensbedingungen „der schönen Leich“ habe ich in meinem Buch Sorella morte analysiert. Hier verweise ich nur auf eine dieser Bedingungen: Wenn die Vergesellschaftung des Weinens gelingt.

Und hier läuft der Ritus zur Hochform auf: Er funktioniert, ohne dass sich Menschen dabei etwas oder viel oder Genaueres denken müssen. Auf den Rücken des Ritus kann sich jeder Mythos setzen – nicht umgekehrt! Rituelle Praxis funktioniert, ohne dass wir sie mit Glaubensvorstellungen oder rationalen Begründungserzählungen aufladen müssen. Wie man bedeutsam macht, was man tut, spielt keine Rolle für die Bedeutung, die durch das ritualisierte Tun selbst konstituiert wird.

Ethnolog:innen oder Religionsphänomenolog:innen sind oftmals bemüht, aus einem Ritual Glauben oder Glaubensvorstellungen zu erschließen. Aber der Ritus selbst macht dieses Bemühen (in den allermeisten Fällen) zu einem vergeblichen oder müßigen. Nigel Barley meint: „Vielleicht aber handelt es sich bei [unserem ethnologischen] Interesse an ›Vorstellungen‹ einfach nur um eine fixe Idee des Westens. In China ist die eifrige Observanz einer allgemein anerkannten rituellen Reaktion auf den Tod ohne weiteres vereinbar mit völliger Gleichgültigkeit dagegen, ob die Praxis auch mit entsprechenden Glaubensvorstellungen einhergeht.“[25] Auch in Wien funktioniert das Vaterunser, ob bei Atheisten, Friedensaktivisten oder den Gläubigen eines kunsthistorischen Christentums, vor allem deshalb, weil es als Ritus funktioniert, auf dessen Rücken sich jeder Mythos setzen kann, aber eben nicht muss. Rituale „sprechen“ bzw. konstituieren soziale Wirklichkeit – völlig unabhängig von semantischen Zuschreibungen, etwa auch genuin religiöser Natur.

„Wir bitten von Kranz- und Blumenspenden abzusehen und stattdessen eine Spende an das St. Anna-Kinderspital – Forschungsinstitut – bei der Bank Austria [...] zu überweisen.“ Solche „Bitten“ lese ich immer öfter auf Todesanzeigen. Bereits der Neanderthaler hat seine Toten Blumen ins Grab gelegt. Und heute? Nützlichkeitsdenken soll über die meaninglessness of ritual[26] den Sieg davontragen. Nur, die Menschen lassen es sich dennoch nicht nehmen, Blumen mitzubringen. Gerade im Umgang mit dem Tod ist das „nichtnützliche“ Ritual unverzichtbar. Mit anderen Worten: Es bleibt bei den Blumen!

 

3. Welche genuin religiösen Vorstellungen bzw. Vorstellungsbilder sind für nicht wenige „konfessionsfrei“ Trauernde von besonderer Bedeutung? Eine Betrachtung aus trauerpsychologischer Perspektive

 

Wir lesen, wir hören: „In meinem Herzen lebst du weiter!“ Oder: „In unserer Mitte wirst du immer einen festen und großen Platz haben!“ Solche und ähnliche Gedanken habe ich als Trauerredner sehr ernst zu nehmen, ja, geradezu zu verkörpern. Denn die meisten Toten, deren Angehörigen ich diene, werden nicht mehr in ein Jenseits „hinaufgeflogen“ oder in ein Reich der Toten eingemeindet, sondern im Herzen „aufbewahrt“. In individualistischen Lebenskulturen wird nicht nur alles persönliche Erleben privatisiert, sei es das erotische, sei es das kulinarische, sondern auch die Toten und die Beziehung zu ihnen: „In meinem Herzen lebst du weiter!“

Was dann mitunter etwa zu dieser Form von Parteilichkeit der Trauer führen kann: „Meine Mutter sieht überhaupt nicht, dass nicht nur sie ihren Mann, sondern auch ich meinen Vater verloren habe!“, höre ich gar nicht so selten. Zwischen Angehörigen kann es dabei zu heftigen Auseinandersetzungen und sogar Handgreiflichkeiten kommen. Jeder bewahrt den Toten in seinem Herzen auf individuelle Weise auf. Jeder errichtet über sich selbst auf individuelle Weise das Trauergerüst, das castrum doloris ist der Apparat der römischen Kaiserapotheose. Wehe dem, der die göttliche Singularität dieser Trauerburgen anzugreifen wagt! Diese individualistischen Trauerburgen können freilich meistens nur um einen sehr hohen Preis errichtet werden: bittere Einsamkeit.

Also: Die Toten überlassen wir nicht mehr dem Hades. Wir anempfehlen sie kaum noch der Barmherzigkeit Gottes. Nein, sie bleiben „mitten unter uns“.

Sigmund Freud hat nicht von ungefähr die „Überwindung“, sogar die „Bewältigung“ von Trauer zum therapeutischen Programm gemacht. Trauer muss nicht Arbeit sein. Aber manchmal ist sie es dann doch. In Familienaufstellungen und in psychotherapeutischen Sitzungen begegnen uns die Toten nicht selten als hochexplosive Zeitgenossen: Gibt es Wege, das Unrecht, das man den Toten angetan hat, wiedergutzumachen? Wie kann ich mich von Schuldgefühlen, die sich der Trauer beimischen, befreien? Wie kann ich die Beziehung zum Toten so „lösen“, dass ich frei werde für neue Beziehungen? Wie kann ich einen Toten gehen lassen, der mein Leben ruiniert hat? Usw.

 

Während etwa die mittelalterliche Idee des Fegefeuers es den Lebenden ermöglicht hat, etwas für die Toten zu tun, um deren sozialen Jenseits-Status zu verbessern, muntert das therapeutische Fegefeuer vor allem die Toten auf, etwas für die „Hinterbliebenen“ zu tun, schlimmstenfalls auf die Weise, dass der Tote als abwesender Popanz zum sehr anwesenden Verfolger oder gar Zerstörer des Lebens der Lebenden wird.

 

Nichts liegt mir ferner, als mich über heutige, therapeutisch induzierte und begleitete „Trauerarbeit“ lustig zu machen. Das wäre nichts als albern. Ganz im Gegenteil: Nicht wenige Menschen, die ich begleite, suchen nach Therapie, aber nach einer, die dahingehend helfen soll, den Toten und denen, die sie verabschieden müssen, ein Eigenleben zu lassen, die Toten sozusagen in Ruhe lassen zu können (auf dass sie die „Hinterbliebenen“ in Ruhe lassen), indem sie – vorzüglich durch rites de passage – in ein „Reich der Toten“ sozial neu eingegliedert werden. Die Toten sollen von den Lebenden segregiert und in eine neue Kommune eingeherdet, aggregiert werden: „Fein sein, auseinander bleiben!“

 

Viele Trauernde scheinen meine These – so oder so – stützen zu wollen: Lebenskulturen, die Glück nur als öffentliches und niemals als privates denken können, haben eine größere kreative, lebensfördernde Fantasie im Umgang mit dem Tod und den Toten als individualistische Gesellschaften, in denen das Ich die Sonne sein muss, um die sich alles dreht. Ich teile die Ansicht von Hartmut Rosa: Die Privatisierung der Frage nach dem guten Leben war ein historischer Fehler. Einschränkend, aus sozialanthropologischer Sicht: Wir können uns nicht aussuchen, einen historischen Fehler zu begehen oder nicht zu begehen.

 

„Die Toten, sie leben weiter in unserer Erinnerung“, schreibt jemand auf die Beileidskarte und schickt diese an Barbara Pachl-Eberhart, die durch einen Unfall ihren Mann und ihre beiden kleinen Kinder verloren hat. Die Trauernde schreibt: „War ihm klar, dass er mich auf subtile Weise dafür verantwortlich machte, meine Familie durch konstante Erinnerungsarbeit am Leben zu erhalten – in einer Art gedanklicher Mund zu Mund-Beatmung, die nur ja nicht aussetzen durfte, weil sonst alles zu spät war? Diese Vorstellung überforderte mich völlig.“ Und welche Vorstellung überforderte Barbara Pachl-Eberhart nicht? Genauer: Welche Vorstellung war ihrer Seele bekömmlicher? „Ich musste davon ausgehen dürfen, dass mein Mann und meine Kinder unabhängig von mir existierten und dass es ihnen da, wo sie waren, auch ohne mein Zutun gut ging. Richtig gut. Besser denn je. Ich brauchte doch jemanden, auf den ich mich verlassen konnte und der stärker war als alle meine Sorgen.“[27]

 

Natürlich ist dieser Kondolenz-Spruch nicht per se dumm oder geschmacklos, aber die Situationen, in denen wir uns als Trauernde, je nachdem, vorfinden, sind so beschaffen, dass uns ein solcher Spruch dumm vorkommt oder eben „völlig überfordert“.

In der Vorstellung, dass ihre lieben Toten auch unabhängig von Barbara Pachl-Eberhart „richtig gut“ existieren können dürfen, spiegelt sich eine wichtige Funktion von Toten- und Trauerritualen (in öffentlichen Lebenskulturen) wider, die Axel Michaels, Indologe und Religionswissenschaftler, so beschreibt: „Die Befriedung der Toten heißt [...] ihnen einen Ort verschaffen, an dem sie auch ohne die Hinterbliebenen sein können. Gelingende Trauer geht somit im modernen Westen fast auf Kosten der Toten. Die Lebenden können nicht loslassen, dem Toten ein Eigenleben zubilligen, ihn als anderen und nicht mehr als unbewältigten Teil ihrer selbst sehen.“[28]

 

Nun kann man den Glauben an das Fegefeuer, an altägyptische Totenwohnungen oder die rituelle Andacht zur Steigerung der sexuellen Potenz der Toten einzelnen Menschen oder einer Gesellschaft nicht einfach verschreiben wie der Arzt dem Patienten ein Antibiotikum. Aber in meiner Arbeit muss ich immer wieder erkennen: Manchen Menschen hilft es sehr, es zu wagen, „wahnsinnig“ genug zu sein, den Toten ein Eigenleben zuzubilligen. Nach dem Motto: Lassen wir die Toten nicht nur hochfliegen, sondern lassen wir sie auch wegfliegen! Die entscheidende Frage hier ist und bleibt diese (und ist für mich als Begleiter Trauernder wichtig): Was hilft uns Lebenden mehr, unsere Toten gehen zu lassen, so gehen zu lassen, dass es uns und den Toten dabei gut geht? Bemerkenswert ist, wie sehr „konfessionsfreie“ Menschen ermutigbar sind, fantasievoll zu trauern. Gerade (sehr) junge Menschen, die ohne jede „religiöse Sozialisierung“ großgeworden sind, sind sehr „unbefangen“, oft gar „neugierig offen“ darin, in Vorstellungen Halt zu finden, die die meisten Religionsphänomenolog:innen der „Welt der Religionen“ zuordnen würden. Aber auch so manche (ältere) Wiener Witwe findet reichen Trost bei den Witwen der Dowayo (kleine Stammeskultur in Kamerun), welche die Individualität und Singularität ihrer toten Männer ganz auslöschen, indem sie deren Namen nicht einmal mehr erwähnen und – kluge Witwen! – sich ihrer eigenen Einzigartigkeit im Gesang versichern: „Bis hierhin haben wir zusammengelebt. Jetzt werde ich in meiner Hütte furzen, und du wirst in deiner Hütte furzen!“[29]

 

Hannes Benedetto Pircher ist Trauerredner, Schauspieler, Essayist und Lehrer (Rhetorik und Liturgische Ästhetik). Er studierte Philosophie in Bologna und an der Hochschule für Philosophie in München, Theologie in Innsbruck, Schauspiel in Innsbruck und St. Petersburg. Von 1994 bis 2001 war Pircher Mitglied des Jesuitenordens. Als Schauspieler trat er u. a. am Tiroler Landestheater und an der Wiener Volksoper auf. Kontakt: benedetto.hannes@gmail.com

 


 

[1] Carlo Maria MARTINI und Umberto ECO, Woran glaubt, wer nicht glaubt? Mit einem Vorwort von Kardinal Franz König (Wien 1998).

[2] Vgl. hierzu etwa die jüngste Studie „Was glaubt Österreich?“, ein Kooperationsprojekt des

Forschungszentrums „Religion and Transformation in Contemporary Society“ der Universität Wien unter der Leitung von Regina POLAK und Astrid MATTES-ZIPPENFENIG und der ORF-Hauptabteilung „Religion und Ethik multimedial“ unter der Leitung von Barbara KRENN. Studienergebnisse unter: https://wasglaubtoe.univie.ac.at/ [Zugriff: 30.06.2025].

[3] Jan LOFFELD, Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt (Freiburg 2024).

[4] Hannes Benedetto PIRCHER, Sorella morte. Über den Tod und das gute Leben (²Wien 2017).

[5] Rupert LAY, Ethik für Manager (Düsseldorf–Wien–New York 1989) 21.

[6] Barbara FRISCHMUTH im Gespräch mit Renate Graber, in: Der Standard vom 3./4. November 2012, 29.

[7] Richard FORD im Gespräch mit Alex Rühle, in: Süddeutsche Zeitung vom 25./26. August 2012, V2/8.

[8] Joachim LUX im Gespräch mit Ronald Pohl, in: Der Standard vom 27. März 2009, 25.

[9] Eric KANDEL im Gespräch mit Renate Graber, in: Der Standard vom 13./14. Oktober 2012.

[10] Siehe PIRCHER, Sorella morte (wie Anm. 4) 77–82 (Von der ökologischen Unsterblichkeit).

[11] Hartmut ROSA, Was ist das gute Leben? Alles hängt davon ab, ob es zwischen der Welt und uns einen Draht gibt, der vibriert, in: DIE ZEIT vom 21. Juni 2013.

[12] Hierzu ausführlich PIRCHER, Sorella morte (wie Anm. 4) 63f.

[13] Nigel BARLEY, Tanz ums Grab. Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz (München 2000) 182.

[14] Zitiert nach Philipp BLOM, Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung (München 2011) 357.

[15] Eingehend hierzu PIRCHER, Sorella morte (wie Anm. 4) 83–88 (Von Auferstehung und Himmelfahrt konfessionsfreier Toter).

[16] Ludwig WITTGENSTEIN, Tractatus logico-philosophicus (Frankfurt am Main 1963) 114 (6.52).

[17] Vgl. Jan ASSMANN, Die Lebenden und die Toten, in: DERS. u. a. (Hg.), Der Abschied von den Toten. Trauerrituale im Kulturvergleich (Göttingen, 2. überarb. Aufl. 2007) 16–36, hier 20f.

[18] Gerd HAEFFNER, Jenseits des Lebens – Diesseits des Todes, in: Geist und Leben 83/6 (o. O. 2010) 401–408, hier 408.

[19] Siehe Anm. 7.

[20] BARLEY, Tanz ums Grab (wie Anm. 13) 206f.

[21] Zur Begründung dieser These vgl. Hannes Benedetto PIRCHER, Das Theater des Ritus. De arte liturgica (Wien 2010).

[22] Zur Thematik vgl. Paul ZULEHNER: Wenn selbst Atheisten religiöse Riten wünschen, in: Albert GERHARDS und Benedikt KRANEMANN (Hg.), Christliche Begräbnisliturgie und säkulare Gesellschaft (EthS 30, Leipzig 2002) 16–24.

[23] Walter BURKERT, Ritual zwischen Ethologie und Postmoderne. Philologisch-historische Anmerkungen, in: Axel MICHAELS und Dietrich HARTH (Hg.), Forum Ritualdynamik.

Kulturwissenschaftlicher Sonderforschungsbereich an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (SFB 619 Ritualdynamik, Nr. 2, 2003) 13–16. Zitiert nach www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/4582/ [Zugriff: 30.06.2025].

[24] Vgl. PIRCHER, Ritus (wie Anm. 21).

[25] BARLEY, Tanz ums Grab (wie Anm. 13) 8f.

[26] In Aufnahme der These des Indologen und Ritualtheoretikers Frits Staal vgl. PIRCHER, Ritus (wie Anm. 21) 156, 168–174 und 449–452. Die bis zum heutigen Tag heftig diskutierte These wurde von Staal erstmals 1979 vorgetragen: Frits STAAL, The Meaninglessness of Ritual, in: Numen XXVI (1979) 2–22.

[27] Barbara PACHL-EBERHART, Warum gerade du? Persönliche Antworten auf die großen Fragen der Trauer (München 2014) 26f.

[28] Axel MICHAELS, Trauer und rituelle Trauer, in: Jan ASSMANN u.a. (Hg.), Der Abschied von den Toten. Trauerrituale im Kulturvergleich (Göttingen 2007) 7–15, hier 12.

[29] Sinngemäß zitiert nach BARLEY, Tanz ums Grab (wie Anm. 13) 207.

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