Patientenakten im Archiv
Verschimmelte Akten im Spital – ein Gesundheitsrisiko
In der Salzburger Nervenheilanstalt, der traditionsreichen Christian-Doppler-Klinik, lagerten im Keller historische Krankenakten aus der Zeit von 1849 bis 1969. Die Dokumentationsstelle Hartheim hatte das Landesarchiv darauf aufmerksam gemacht, dass die Unterbringung dieser Akten so schlecht war, dass das Papier bereits Schimmel angesetzt hatte. Das war eine wichtige Motivation für die Spitalsleitung, das historische Material an das Landesarchiv abzugeben, berichtete Direktor Dohle.
Im Jahr 2013 wurden die 30.000 Akten von den Archivar*innen geborgen, restauriert, geordnet, erschlossen, in insgesamt 632 Archivkartons umgebettet und schließlich im Salzburger Landesarchiv deponiert. Mit dem Spital wurde eine Übergabevereinbarung geschlossen, die die Zugänglichkeit der historischen Unterlagen für die Forschung sicherstellte. Auch eine Vorgehensweise für eine Einsichtnahme aus medizinischen Gründen wurde dabei geregelt. Denn auch ältere Akten bereits verstorbener Patient*innen können für aktuelle Behandlungen wichtig sein, wenn für Nachfahren genetische Dispositionen anzunehmen sind. Etwa für die Beratung von Paaren mit Kinderwunsch kann eine solche Einsichtnahme wichtig werden.
Regelungen für die Benützung von Patientenakten im Archiv
Das Landesarchiv hat gemeinsam mit dem Primararzt eine Pressekonferenz abgehalten, in der die Öffentlichkeit über den Bestand informierte wurde. Die fachgerechte Archivierung war dem medizinischen Personal wichtig und geschah aus Respekt für die Kranken und ihre Familien. Dabei wurde auch mitgeteilt, dass für alle Akten eine unbegrenzte, allgemeine archivische Schutzfrist gilt und eine Benützung nur für die Wissenschaft und für die Medizin möglich ist. Es wurde ein detailliertes Prozedere vorgestellt, wie die Benützung der Akten im Archiv vor sich geht: Bei einer Anfrage nach bestimmten Krankenakten wird zuerst im Archiv überprüft, ob zur angefragten Person überhaupt Akten vorhanden sind. Handelt es sich um Nachfahren, die um Akteneinsicht in die Unterlagen eines verstorbenen Verwandten bitten, wird die Befürwortung von der Leitung der Dopplerklinik eingeholt. Bei medizinisch begründeten Anfragen erfolgt die Einsicht im Beisein eines Arztes. Bei wissenschaftlichen Anfragen berät das Archiv im Umgang mit den historischen Quellen. Prinzipiell darf nur Einsicht genommen, nicht aber kopiert oder digitalisiert werden. Bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind die Daten zu anonymisieren. Wissenschaftler*innen haben dem Archiv außerdem ihr Projekt und ihr Forschungsinteresse darzustellen, bevor eine Benützungserlaubnis erteilt wird.
Seit Februar 2015 gab es insgesamt 25 Benützungen, berichtet Oskar Dohle. Dass sind sehr wenige, was auch daran liegt, so Dohle, dass bei Aufforderungen seitens des Archivs nach Beschreibung des Projekts die Anfragen oft zurückgezogen wurden. Einsichtnahmen für Ahnenforscher*innen werden nur gestattet, wenn ein Verwandtschaftsverhältnis nachgewiesen werden kann. Eine Sonderthematik sind die Euthanasiefälle in der Nervenheilanstalt. Hier stellt das Landesarchiv selbst Opferlisten zusammen.
Welche Spitalsakten kommen ins Archiv?
Krankenakten sind hochsensible Unterlagen, mit denen im Archiv sorgsam umzugehen ist. Es ist aber wichtig, solche Akten im Archiv für die medizinhistorische Forschung aufzubewahren. In den letzten Jahren hat es hier eine Veränderung auch in der Haltung der Landesarchive gegeben. Als ich im Rahmen meiner Tätigkeit für die Arbeitsgemeinschaft der Ordensarchive Österreichs vor über zehn Jahren von Ordensgemeinschaften erstmals angefragt wurde, wie mit den Archiven der Ordensspitäler verfahren werden soll, fragte ich bei den Kolleg*innen in den Landesarchiven nach, wie das im Bereich der Landeskrankenhäuser gehandhabt wurde. Damals erhielt ich noch die Auskunft, dass man dies den Krankenanstaltenverbänden überlasse. Da diese aber gemäß Krankenanstaltenordnung ihre Akten nach 30 Jahren vernichteten, bemühen sich die Landesarchive in den letzten Jahren um Übergaben aus den Spitälern. Im Kärnten gibt es mittlerweile eine Anbotspflicht, berichtete Christine Tropper vom Landesarchiv in Klagenfurt. Für Salzburg berichtete Oskar Dohle, dass die Dopplerklinik alle Krankenakten digitalisieren lässt und diese in Zukunft also in digitaler Form übergeben werden. Im Niederösterreichischen Landesarchiv gibt es noch keine Akten aus den Spitälern, sagte Stefan Eminger, man strebt aber Übergaben an.
Eines der größten Probleme ist die Frage der Bewertung. Patienten- und Verwaltungsakten aus Spitälern und von den Krankenanstaltenverbänden sind sehr umfangreich, es muss also entschieden werden, was im Archiv behalten und was vernichtet wird. Darüber hat man sich im Wiener Stadt- und Landesarchiv schon einige Gedanken gemacht, berichtete Susanne Fritsch. Stellvertretend für die Geschichte medizinischer Behandlungen wurde das Allgemeine Krankenhaus in Wien als wichtigste Stelle zur Übergabe von Akten an das Archiv bestimmt, denn das große Spital deckt alle Bereiche der Medizin ab. Besondere Schwerpunkte in der Überlieferungsbildung wurden für die Abteilungen Kinderheilkunde und Psychiatrie gesetzt, die in Wien eine große Tradition haben. Aus den Akten anderer Abteilungen und Spitäler werden nur Einzelakten zur Dokumentation aufbewahrt. Die Auswahl der Einzelakten aus der Gesamtüberlieferung erfolgt durch Samplebildung. Bei chronologisch geordneten Akten werden für jedes zehnte Jahr Dokumentationsmonate aufgehoben. Bei Akten, die alphabetisch nach Nachnamen der Patient*innen geordnet sind, werden bestimmte Buchstaben herausgezogen. Im Kärtner Landesarchiv sind das die Buchstaben D, O und T, weil diese 10 % der Überlieferung ausmachen und auch die Nachnamen des slowenischen Bevölkerungsanteils abdecken, berichtete Christine Tropper. Aber es wäre auch noch zu bedenken, inwieweit Migrant*innen dabei repräsentiert sind, fügt sie hinzu. Es ist auch nicht möglich, aus allen Spitälern Patienten- und Verwaltungsakten zu übernehmen, so Tropper weiter, sondern man wählt einzelne Spitäler aus.
Auf meine Rückfrage, ob seitens der Archive die medizinhistorische Forschung kontaktiert wurde und ob von dieser Seite angegeben wird, welche Akten man als für die zukünftige Forschung für besonders wichtig erachtet, berichteten die Kolleg*innen aus den Landesarchiven, dass Medizinhistoriker*innen und Ärzt*innen stets verlauten ließen, es sei alles wichtig und es müsse alles aufgehoben werden. Es war auch eine Kollegin aus dem Slowenischen Nationalarchiv im Workshop, die von den Erfahrungen der Archivierung von Patientenakten in Lubljana berichtete. Auch hier wird Zugang nur für Forschung und für medizinische Zwecke gestattet.
Art rude
Ulrike Feistmantl vom Salzburger Landesarchiv berichtete dann über ein Forschungsprojekt am Bestand der Patientenakten der Christian-Doppler-Klinik. Die Kunsthistorikerin Elisabeth Telsnig hat sämtliche Akten auf kreatives Schaffen von Patient*innen durchgesehen und in den insgesamt 27.800 Akten in zweijähriger Recherchearbeit 153 Akten ausfindig gemacht, denen Zeichnungen von Patient*innen beilagen. Das Interesse am Kunstschaffen in psychiatrischen Einrichtungen ist in der Kunstgeschichte ein etabliertes Thema und als eigenes Genre, als „art rude“ („rohe Kunst“), bekannt. Die Ergebnisse wurden von Feistmantl und Telsnig in dem Buch „…Trotl bin ich nicht“ (Salzburg 2018) publiziert. Im Lentos-Kunstmuseum in Linz wurden im Sommer 2019 einige Stücke in der Ausstellung „Extraordinaire“ gezeigt.
[Helga Penz, Historikerin]