Zum 37. Österreichischer Archivtag luden am 24. September 2012 der Verband Österreichischer Archivarinnen und Archivare sowie das Niederösterreichische Landesarchiv nach Krems ein. Noch vor der Eröffnung des Archivtags fand ein Workshop zum Thema Records Management statt. Gerhart Marckhgott, Direktor des Oberösterreichischen Landesarchivs und stellvertretender Vorsitzender des VÖA, leitete das Gespräch, die einzelnen TeilnehmerInnen, Mitglieder des Vorstands und geladene Experten, erläuterten ihr Verständnis des Fachgebiets und ihre Ausgangsposition. Helga Penz erklärte seitens der ARGE Ordensarchive Österreichs, dass sich für Archive die Fragen nach dem Records Management in der Sicherung der Überlieferungsbildung stelle, insbesondere im digitalen Bereich. Denn wenn elektronische Unterlagen ins Archiv übernommen werden, gibt es nicht mehr die klassischen äußeren Merkmale, mit denen die Authentizität dieser Unterlagen nachvollzogen werden kann. Es ist darum umso wichtiger geworden, dass es geordnete und gut geführte Schriftgutverwaltungen gibt. Ordensverwaltungen sind vergleichsweise kleine Verwaltungseinheiten mit Sachbearbeiterablagen an Einzelarbeitsplätzen. In der Beratung dieser Verwaltungen möchte Helga Penz im Ordensarchivbereich mit anderen Einrichtungen zusammenarbeiten, die Ordensgemeinschaften etwa in Wirtschaftsfragen beraten.
In der Runde herrschte eine allgemeine Skepsis, dass es in Österreich abgesehen von den ArchivarInnen Kompetenzen in Records Management gibt. Auch die für Verwaltungsorganisation zuständigen Stellen der großen Gebietskörperschaften decken das nicht ab. Die Österreichischen ArchivarInnen müssen sich selber fit machen, um in jenen Einrichtungen, aus denen sie Archivgut übernehmen, eine geordnete Schriftgutverwaltung sicherzustellen. Es folgte eine Diskussion, ob Schriftgutverwaltung die geeignete Übersetzung von Records Management ist oder dieser Begriff nicht mehr umfasst. Insbesondere sei zu berücksichtigen, dass archivwürdige Überlieferung nicht ausschließlich in der klassischen Form des Aktes stattfindet, und dass es neben dem auf einem Aktenplan aufbauenden Dokumentenmanagementsystem (DMS) auch andere business applications wie SAP gibt. Weiters wurde betont, dass Records Management eine Führungsaufgabe ist, da es wesentlich um Prozessorganisation geht. Zur Frage der weiteren Vorgehensweise erklärte Helga Penz, dass es nützlich wäre, wenn österreichischen ArchivarInnen eine Handreichung zur Verfügung gestellt werden könnte, welche ihnen, basierend auf den bestehenden Standards (ISO 15489, MoRequ2010), eine Grundlage für die Beratung ihrer Verwaltungen bietet. Der Vorschlag zur Erstellung einer solchen Handreichung stieß auf allgemeine Zustimmung und wird auf die Tagesordnung der nächsten Vorstandssitzung gesetzt.
Nach der Eröffnung des Archivtags – unter anderem durch den Gastgeber, den Direktor des Niederösterreichischen Landesarchivs Willibald Rosner – hielt Martin Scheutz, Universitätsprofessor am Institut für Österreichische Geschichtsforschung, den Eröffnungsvortrag zum Thema „Der Wert der archivalischen Geschichtsquellen – aktuell oder doch nicht?“
Martin Scheutz spannte einen weiten Bogen über den Wert archivalischer Quellen von der fast schon ikonenhaften, auratischen Funktion, den ein historischer Text einnehmen kann – er nannte dazu das Monument von Vard? in Norwegen, welches mit Originaldokumenten an die Hexenverbrennungen erinnert - bis zur praktischen Funktion als Unterrichts- und Anschauungsmaterial für Studierende, die Scheutz in Forschungsseminaren, die er in Archiven abhält, an die Quellenarbeit heranführt. Als Beispiel brachte der Referent das Stadtarchiv Zwettl, wo der dortige Archivar Friedel Moll in einer engagierten Initiative die Ratsprotokolle der Stadt transkribierte und im Netz zur Verfügung stellte. Daraus entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit mit Lehrenden der Universität Wien, die in Seminaren mit den Studierenden die Zwettler Quellen weiter bearbeiteten und woraus schon einige Publikationen hervorgegangen sind. Der Wert einer Schriftquelle von lokaler Bedeutung konnte dadurch einen neuen Stellenwert bekommen und überregional eine Rolle in der vergleichenden Forschung spielen. Quellen, insbesonders die weniger bekannten Archivaliengattungen, werden auch durch Editionen aufgewertet. Scheutz stellte dazu die Editionsreihe Quelleneditionen des Instituts Österreichische Geschichtsforschung (QIÖG) vor.
Eva Blimlinger, Rektorin der Akademie der bildenden Künste sowie ehemalige Mitarbeiterin der Österreichischen Historikerkommission, referierte über „Digital-analog – Das Digitalisat und der Akt in Forschung und Lehre“. Sie kritisierte scharf die Reproproduktionsordnung des Österreichischen Staatsarchivs und forderte, dass in Archiven das Fotografieren sowie das Einstellen der Digitalisate ins Internet allen Benützern ohne Kosten erlaubt werden soll. Sie sprach sich überhaupt für eine Digitalisierungsoffensive in Archiven aus und verwies auf die beiden Digitalisierungsprojekte der Österreichischen Nationalbibliothek (ANNO für historische Zeitungen und ALEX für historische Rechts- und Gesetzestexte). Die anschließende Diskussion beschäftige sich mit Fragen von Open Access sowie der EU-rechtllichen Bestimmung, public sector information (Informationen, die in Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung entstehen) allen Bürgerinnen und Bürgern zugänglich zu machen (PSI-Richtlinie), worin zukünftig auch die staatlichen Archive und Museen miteingeschlossen werden sollen.
Michael Hochedlinger, Archivar im Österreichischen Staatsarchiv, Abteilung Kriegsarchiv, stellte seinen Vortrag unter den Titel “Miteinander – Gegeneinander – Nebeneinander? Archive und Geschichtswissenschaft im Schatten von Kulturgeschichte und Digitalisierungspopulismus“. Er konstatierte eine Krise der österreichischen Geschichtswissenschaft und ihr folgend eine ebensolche der Archive. Die akademische Geschichtsforschung habe den Bezug zum Lesepublikum verloren, sei, anders als in touristischer Folklore, im öffentlichen Raum abwesend und habe den Charakter einer Orchideendisziplin angenommen. Was an Universitäten im Fach Geschichte gelehrt werde, könne man in Hongkong ebenso wie in Greifswald hören, es sei fast mehr ein in die Vergangenheit transportierter Ethikunterricht. Eine solche Geschichtswissenschaft brauche die Archive als Quellenlager nicht mehr, die stattdessen von Hobbyforschern und Laien frequentiert werden. Die Entfremdung zwischen Archiv und akademischer Wissenschaft gehe mit dem veränderten Berufsbild des Archivars einher. Statt des Historikerarchivars, der selbst akademischer Geschichtsforscher ist, sei nunmehr ein Archivar gefragt, der Dienstleister, Verwaltungsberater, IT-Spezialist und Kulturmanager in einer Person ist, aber nur mehr über rudimentäre geschichtswissenschaftliche Kompetenzen verfügt, ja nach Ansicht auch von ArchivarInnen mehr als solche gar nicht benötigt. Hierin kritisierte Hochedlinger Gerhart Marckhgott und seine Darstellung in seinem Aufsatz „Vom Diener zum Dienstleister“ (in: Archive im Web – Erfahrungen, Herausforderungen, Visionen, hg. v. Thomas Aigner, Stefanie Hohenbruck, Thomas Just, Joachim Kemper, St. Pölten 2011, Seite 12 – 20). Hochedlinger bedauerte, dass im Verständnis vom Archiv als Informationsdienstleister der wissenschaftlich arbeitende Historiker nur mehr am Rande als Benützer in den Blick komme, und zeigte sich betroffen, dass die Ausbildung am Institut für Österreichische Geschichtsforschung, welche nach lange geführter Diskussion endlich den Anforderungen, die seitens der österreichischen Archive gestellt wurden, inhaltlich entspreche, gerade von Archivseite in Frage gestellt wird. Hochedlinger äußerte sich weiters kritisch über den Digitalisierungsoptimismus. Ebenso wenig wie e-government eine e-democracy begründen könne, ebenso wenig würden Digitalisate zu besserer Forschung führen. Was nützen 200.000 mittelalterliche Urkunden im Netz, wenn sie kaum noch jemand lesen kann?
Nach den Vorträgen tagten die Fachgruppen. Das Protokoll des Treffens der Fachgruppe der Archive der Kirchen und Religionsgemeinschaften wird allen Mitgliedern des Verbands Österreichischer Archivarinnen und Archivare, die in einem Archiv einer Kirche, eines Ordens oder einer Religionsgemeinschaft tätig sind, zugesendet.
Den Abschluss des Archivtags bildete die Generalversammlung des Verbands Österreichischer Archivarinnen und Archivare, die im Wesentlichen aus Berichten des Vorstands und der Fachgruppen über die Tätigkeit im vergangenen Arbeitsjahr sowie aus dem Kassabericht für 2011 bestand. Abschließend wurde darauf hingewiesen, dass in der Generalversammlung 2013 ein neuer Vorstand gewählt werden wird und alle Mitglieder des Verbands ermuntert, eine Mitarbeit im Vorstand zu erwägen.
Bericht: Helga Penz und Severin Matiasovits