An der Grazer Katholisch-Theologischen Fakultät wurden erste interdisziplinäre Weichenstellungen zur wissenschaftlichen Aufarbeitung des Themas geistigen/geistlichen/spirituellen Missbrauchs gesetzt.
Auch Waltraud Klasnic nahm am Symposium "Geistiger Missbrauch" teil. (c) Gerd Neuhold, Sonntagsblatt
Gerhard Hörting, Initiator der Tagung, präsentierte eingangs eine Filmsequenz des Fernsehinterviews zwischen Doris Wagner und Kardinal Christoph Schönborn. „Dieses Interview war die Initialzündung sich mit dem Begriff geistlicher/geistiger Missbrauch auf wissenschaftlicher Ebene zu beschäftigen“, so der Gerichtsvikar der Diözese Graz-Seckau.
Bischof Wilhelm Krautwaschl und Dekan Christoph Heil begrüßten die zahlreichen Teilnehmerinnen beim öffentlichen Teil des Symposiums am 29. November 2019. Geistiger Missbrauch passiere nicht nur in Kirche, sondern dort wo Menschen begleitet werden und in schwierigen Phasen des Lebens sinnstiftende Antworten erwarteten, so Bischof Krautwaschl. Er wünsche aufschlussreiche Stunden und dass die Früchte dieser Tagung etwas mehr „den Riegel dem Missbrauch vorschieben“.
Definition
Als erster Referent versuchte der emeritierte Moraltheologe Walter Schaupp eine erste Standortbestimmung. Bereits in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es erste Einsichten zu geistlichen Missbrauch im Umfeld evangelikaler Gruppierungen in Amerika. Jeff van Vonderen und David Johnson stellten erste Parallelen zwischen sexuellem Missbrauch und psychischen Schädigungen durch religiöse Gruppen fest. Erste Hilfsangebote wie CBE (Christians for biblical equality) kamen ebenfalls aus stark biblischer Tradition. Seit über 10 Jahre forsche Lisa Oakley an der Universität Chester in England dazu.
Der em. Universitätsprofessor für Moraltheologie, Walter Schaupp, gehört der diözesanen Missbrauchskommission an. (c) Gerd Neuhold
Es gäbe zahlreiche Facetten des Phänomens geistlichen Missbrauchs. Religiöse Führer wüssten dabei immer, was Gott mit anderen will. Emotionaler Druck und Kontrolle würden über innere religiöse Entwicklung im Beruf und im Privatleben ausgeübt. Schaupp sprach von einem transkonfessionellem Problem mit gleichen Mustern. Wachsende Sensibilisierung gegenüber Machtmissbrauch in Gesellschaft seider eine Hintergrund, aber es gäbe auch eine „neue spirituelle Vulnerabilität“, so Schaupp.
Grenzüberschreitende Macht
Schaupp stellte auf Grundlagen verschiedener Definitionen seinen eigenen Vorschlag dazu vor: „Spiritueller Missbrauch ist gegeben, wenn Personen, die über religiös-spirituelle Autorität verfügen, grenzüberschreitend Macht ausüben, unter Verwendung religiös-spiritueller Motive und negativen Folgen für die Betroffenen.“ Die Frage ob auch dann diese Form des Missbrauchs gegeben sei, wenn sich niemand geschädigt fühle, bleibe offen.
Die Präsidentin des Straflandesgerichts in Graz und Mitglied der Klasnickommission Caroline List. (c) Gerd Neuhold
Caroline List, Präsidentin am Landesgericht für Strafsachen in Graz und Mitglied der unabhängigen Opferschutzkommission (Klasnickommission) skizzierte die Geschichte des Themas. Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts kam die Thematik des sexuellen Missbrauchs auf. Ganz stark erschütterte das Thema im Jahr 2010 die katholische Kirche. Aus der Arbeit in der Kommission ergäben sich Muster. Jetzt sei geistiger Missbrauch am Anfang einer Aufarbeitung und List mutmaßt, dass dieser Missbrauch von Freundschaften bis Sportgemeinschaften reiche. Ihr Thema ist das, was davon strafbar ist. Missbrauch sei als physische und psychische Gewalt wie auch Vernachlässigung gut beschreibbar. Auch List istdavon überzeugt, dass bei jeder Definition von geistlichem/geistigen Missbrauch die „Schädigung“ enthalten sein müsse.
List stellte Missbrauchsfälle vor, die einerseits strafrechtlich relevant sind, andererseits im Strafrecht nicht abgebildet sind, obwohl man davon sprechen kann.
Missbrauchsbegünstigende Systeme
Günther Klug, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie und Präsident von „pro mente Austria“ stellte seine psychiatrische Perspektive vor. „Geistiger Missbrauch gibt es überall, trotzdem gibt es Gruppen die stärker davon betroffen sind.“ Missbrauch habe mit Macht und Gewalt zu tun, wie auch Missbrauch mit Systemen zu tun habe. Macht sei nicht von vorhinein gut oder böse. Es gäbe auch eine dunkle Seite der Macht, jene die zur Korruption neige. Doch dafür gäbe es systematische Rahmenbedingungen, eine Person, die gewillt ist das Potential dazu auszunutzen und das Opfer.
Günther Klug nahm von Seite der Medizinischen Universität Graz an der Tagung teil. (c) Gerd Neuhold, Sonntagsblatt
Zwei Merkmale machen eine Organisation anfällig, so Klug: ein positiver Zweck, der öffentlich bekannt ist und eine interessante Mitgliedschaft. Anfällige Systeme für Machtmissbrauch besäßen ein hohes Image, klare Hierarchien, lange Traditionen und starke Leitungspositionen. Solche Systeme seien u.a.: Schule, Universität, Kirche, Psychotherapie, Krankenhaus, Bundesheer, Polizei, Hierarchische Familiensysteme und Pflegeheime.
Klug stellte in 11 Regeln das Handbuch zum Missbrauch auf. Darin sind Empfehlungen wie: „Betonen Sie die Exklusivität der Gruppe“, oder „Manipulieren sie die Sprache“, oder „Lassen Sie beichten und manipulieren Sie dieselbe Person mit dem Wissen.“ Grundsätzlich sei jeder in Gefahr Opfer des geistigen Missbrauchs zu werden, wenn man sich zu sicher sei und nicht aufpasse.
Gott schenkt Freiheit
Der Jesuit P. Anton Witwer SJ referierte zu dem Thema: „Geistlicher Missbrauch – eine ‚Vergewaltigung‘ der göttlichen Tugenden. Missbrauch von Glaube, Hoffnung und Liebe.“ Jedes selbstbezogene Machtstreben, auch wenn nicht beabsichtigt, führe zu einer Erniedrigung, setzte Witwer an. Die Antwort Jesu sei die radikale Umkehr, die Haltung des Dienens. Witwer warnte, dass wir kein Recht hätten mit dem Finger auf andere zu zeigen, denn etwas von der Selbstsuche – die oft hinter geistigem Missbrauch steht – stecke in jedem von uns.
P. Anton Witwer SJ in der Diskussion. (c) Gerd Neuhold
Es gäbe einen missbräuchlichen Umgang mit Macht wie bei Eltern. Geistlich wird dieser, wenn die Gottesbeziehung dazu ausgenutzt werde. Täter des geistlichen Missbrauchs sehen sich als Lehrer und Interpret der Lehre und geben an zu wissen, wie der Glaube in der Praxis zu leben sei. Täter machten sich dabei zur göttlichen Autorität. Die Frage „Wie Glaube zu leben sei“, sei vor allem für Suchende verführend. Sie merkten lange nicht, wie sie ausgenutzt würden und merkten nicht wie sich Täter zwischen Sie und Gott hineindränge.
Ein mögliches Kriterium für die Wahrnehmung des geistlichen Missbrauchs sei die Schlüsselfrage nach Freiheit.
[mgsellmann]