Während sich Europa auf den Ukrainekrieg und die Energiekrise konzentriert, gerät der Krieg in Syrien immer mehr in Vergessenheit. Die Salesianer Don Boscos sind geblieben und betreuen im Jugendzentrum in ihrem Kloster in Aleppo wöchentlich bis zu 800 Kinder. Ein Lokalaugenschein von Brigitte Sonnberger (Don Bosco Mission Austria).
Brigitte Sonnberger (re.), Don Bosco Mission Austria, berichtet in ihrem Lokalaugeschein über die schwierige Situtation für die Menschen in Syrien und wie die Salesianer Don Boscos in Aleppo helfen. (c) Don Bosco Mission Austria / Brigitte Sonnberger
Zerstörte Häuser, Ruinensiedlungen, von Einschusslöchern übersäte Wohnungen. Nur wenige Kilometer außerhalb der syrischen Hauptstadt Damaskus Richtung Aleppo sind die Zerstörungen und Spuren des über elf Jahre anhaltenden Krieges sichtbar. Die Kämpfe wüteten besonders in Harasta. Ursprünglich eine kleine überschaubare Vorstadt von Damaskus, wo sich vor dem Krieg vor allem die Damaszener Mittelschicht Wohnungen und Häuser kauften. Ich befinde mich auf der M5, die wichtigste Nord-Süd-Verbindungsroute Syriens, die über 450 km lang die Grenze Jordaniens und die zweitgrößte Stadt Syriens Aleppo verbindet.
Eingestürzt, zerschossen, verlassen.
Es gibt kaum Verkehr, nur wenige Lastwagen und Kleintransporter benutzen den vierspurigen Highway. Über viele Kilometer sind nichts als zerstörte Wohnsiedlungen und kaputte Fabriken zu sehen. Eingestürzt, zerschossen, verlassen. Wüstenlandschaften wechseln sich mit Zedernwäldern ab. Zerstörte Raststationen und verlassene Tankstellen, menschenleer, nur ab und zu verirrt sich eine Schafherde am Rand der Straße. Eine dystopische Szenerie, die das Leid und den Schrecken der Menschen in dieser Region nur erahnen lässt.
Nach vier Stunden und etlichen Checkpoints erreicht man Aleppo, jene Stadt im Norden Syriens, die im Krieg besonders stark getroffen wurde.
Es ist für mich die zweite Reise nach Syrien, als junge Studentin studierte ich Arabisch in Damaskus und bereiste das Land, das war vor mehr als 25 Jahren. Aleppo war mir noch gut in Erinnerung, eine pulsierende Stadt, mit einem unendlichen Gewirr an Gässchen, fliegenden Händlern und schönen Häusern mit reich verzierten Holzbalkonen.
Eingestürzt, zerschossen, verlassen. Der Krieg in Syrien hinterlässt deutliche Spuren der Verwüstung. (c) Don Bosco Mission Austria / Brigitte Sonnberger
Vom Weltkulturerbe zur Trümmerstadt
Das Aleppo von damals gibt es heute nicht mehr. Aleppo war lange Zeit einer der dramatischsten Kriegsschauplätze in Syrien. Ein großer Teil der von der UNESCO 1986 als Weltkulturerbe ausgezeichneten Stadt wurde 2016 vom syrischen Präsidenten Asad mithilfe der russischen Luftwaffe in Schutt und Asche gebombt. Apokalyptische Bilder der zerbombten Stadt mit den tausenden Toten gingen damals um die Welt. Blickt man von der mächtigen Zitadelle, die im 13. Jahrhundert auf einem 50 Meter hohen Hügel mitten in der Altstadt erbaut wurde, wird das Ausmaß der Zerstörung des Krieges sichtbar. Der Osten Aleppos gleicht auch heute noch einem Trümmerfeld, beschädigte und eingestürzte Häuser, kaputte Straßenzüge, zerstörte Stromleitungen, geplünderte Geschäfte. Es ist kaum vorstellbar, dass in diese Ruinen Menschen zurückkehren.
Von einem Wiederaufbau sieht man in Aleppo nicht viel. Die große Umayyadenmoschee, die während der Kriegsjahre schwer beschädigt wurde und deren Minarett einstürzte, wird aktuell restauriert, ein kleiner Teil des Souks wurde von der Aga Khan Foundation renoviert, ab und zu sieht man Kräne zwischen den Häuserruinen. Vielmehr stechen die zahlreichen Plakate des syrischen Präsidenten ins Auge, Asad freundlich lächelnd im Anzug und Krawatte mit dem Slogan „Aleppo liegt in meinen Augen“, aber auch mit gestrecktem Zeigefinger in Camouflage mit Sonnenbrille. Ein besonders zynisches Bild.
„Jetzt ist das Leben schwer.“ Händler Youssef berichtet von den Auswirkungen des Krieges auf sein Leben - er hat seine Söhne seit sechs Jahren nicht mehr gesehen. (c) Don Bosco Mission Austria / Brigitte Sonnberger
„Ich habe meine Söhne seit sechs Jahre nicht mehr gesehen“
Ein Rundgang durch den weltweit größten, 12 km langen und 350 Hektar großen, überdachten Souk offenbart die komplette Bandbreite der Zerstörung. Die ehemals farbenfrohen Geschäfte sind nur noch Ruinen, Löcher in den Wänden, alles ist zerstört, tot. Obwohl keine Kunden vorbeikommen, hat Youssef, ein etwa 50-jähriger Mann von rundlicher Statur, sein Geschäft geöffnet, ein kleiner Laden von rund zwei Quadratmetern. Er verkauft alte Stoffe aus Aleppo, Schmuck und Nippes. Wie es ihm geht? Der freundliche Mann zeigt auf die Fotos von vier jungen Männern auf seinem Smartphone und sagt mit Tränen in den Augen: „Ich bin in Aleppo geboren, ich war immer hier. Jetzt ist das Leben sehr schwer. Ich habe vier Söhne, jedem habe ich vor dem Krieg ein Geschäft gekauft.“ Er deutet auf die vier Löcher in der Wand gegenüber. „Ich bin ich mit meinen Söhnen nur noch über WhatsApp in Kontakt. Ich habe sie seit sechs Jahren nicht mehr gesehen, sie arbeiten heute in Istanbul in Restaurants.“
1 Stunde Strom am Tag
Die mangelnde Stromversorgung ist eines der größten Probleme für die Menschen in Syrien, da das Stromnetz in vielen Landesteilen noch immer stark beeinträchtigt ist.
Mohamad Jasser, Leiter des UNDP Aleppo (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen) kommt selbst aus Aleppo. Er erklärt: „Ein Hauptproblem ist, dass 2016 die Stromversorgung in Aleppo privaten Eigentümern überlassen wurde. Damit wurde ein Monster geschaffen. Heute gibt es nur noch 1-2 Stunden Strom am Tag. Der Rest kommt von privaten Stromgeneratoren, die mit Diesel betrieben werden. Und Diesel wird über den Schwarzmarkt eingekauft.“
„Die Situation in Aleppo ist sehr dramatisch, die Menschen kämpfen jeden Tag ums Überleben. Es gibt kaum Wasser und Strom, keinen Treibstoff, keine Jobs“, berichtet Salesianerpater Dani Gaurie. (c) Don Bosco Mission Austria / Brigitte Sonnberger
60 Prozent der Bevölkerung hungern
Die Inflation und der Verfall der Währung sind freilich das größte Problem. Zu Beginn des Krieges 2011 bekam man für 1 US-Dollar noch 50 syrische Lira, heute bekommt man für 1 US-Dollar rund 4.000 syrische Lira. Für viele Menschen sind sogar Grundnahrungsmittel nicht leistbar. Der Bericht des Welternährungsprogramms (WFP) führt im Juni 2022 an, dass in Syrien 12,4 Millionen Menschen, das sind fast 60 Prozent der Bevölkerung, Hunger leiden.
Ein weiteres Problem sind die im Juni 2020 von den USA verhängten Wirtschaftssanktionen, die weniger die Regierung, sondern vielmehr die Bevölkerung treffen, sagt der Experte des UNDP.
Zukunft der Kinder!?
Leidtragende sind vor allem die Kinder. Das syrische Bildungssystem liegt am Boden. Viele Schulen sind noch immer zerstört. Viele Lehrer, die konnten, sind ins Ausland geflüchtet. Aufgrund der hohen Treibstoffpreise fehlt es auch an Schulbussen in die nächstgelegenen Schulen. Eine Stütze der syrischen Bildungseinrichtungen sind Ordensgemeinschaften.
Die Salesianer Don Boscos betreiben in ihrem Kloster im Westteil Aleppos ein Jugendzentrum. Wöchentlich werden bis zu 800 Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren betreut. (c) Don Bosco Mission Austria / Brigitte Sonnberger
Wie die Salesianer Kindern in Aleppo helfen
Im Westteil Aleppos betreiben die Salesianer Don Boscos in ihrem Kloster, das 1948 gegründet worden ist, ein Jugendzentrum für Kinder von 6 bis 14 Jahren. Auch während des Krieges blieben die Pforten offen. Jeden Nachmittag ab 13 Uhr hört man fröhliches Kinderlachen und ein geschäftiges Kommen und Gehen. Die Salesianer betreuen hier wöchentlich bis zu 800 Kinder. Unterstützt werden sie dabei von rund 120 Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Es wird gelernt, gebastelt, gesungen, gespielt. Für viele Kinder, die ins Don Bosco Zentrum kommen, ist es die einzige Abwechslung zu ihrem tristen Alltag.
„Die Situation in Aleppo ist sehr dramatisch, die Menschen kämpfen jeden Tag ums Überleben. Es gibt kaum Wasser und Strom, keinen Treibstoff, keine Jobs, viele haben kein Einkommen, oft nicht einmal das Notwendigste zum Überleben. Und es gibt keine Heizungen, im Winter frieren die Menschen. Manche Kinder fragen uns, ob sie zum Haare waschen in unser Zentrum kommen können. Denn sie haben kein Wasser zuhause.“ erklärt der syrische Salesianerpater Dani Gaurie, während er durch die Räumlichkeiten seiner Ordensgemeinschaft führt. Es gibt auch eine Schule im Gebäude, die in den 1960er Jahren verstaatlicht wurde. Die Salesianer hoffen, dass sie ihre Schule von der Regierung zurückbekommen.
Ein Stück Normalität und Ablenkung
„Viele Kinder, die das Don Bosco Zentrum besuchen, wohnen in entfernten Stadtteilen. Sie werden mit Bussen von zuhause abgeholt. Genau das ist aber aufgrund der hohen Treibstoffkosten für uns aktuell ein Problem“, erklärt Pater Gaurie. „Der Besuch im Zentrum ist für die jungen Menschen jedoch sehr wichtig. Ein Stück Normalität und Ablenkung. Hier können die Kinder und Jugendlichen lernen, Freunde treffen und gemeinsam spielen.“
Die Salesianer Don Boscos haben Syrien während des Krieges nie verlassen. In Damaskus, Aleppo und Kafroun unterstützen sie Kinder und Jugendliche mit Bildungsangeboten und bieten jungen Menschen Zugang zu beruflicher Ausbildung. Besonders bedürftigen Familien helfen die Salesianer mit Lebensmittelpaketen und Voucher.
„Die jungen Menschen in Syrien haben Hoffnung. Für sie ist es wichtig ihr Leben gestalten zu können. Aber es wird immer schwieriger und viele denken daran, das Land zu verlassen. Jede Unterstützung, um die Hoffnung nicht zu verlieren, ist gut. Wir Salesianer setzen uns dafür ein, dass die jungen Menschen in Syrien bleiben“, sagt Pater Gaurie abschließend.
Don Bosco Mission Austria unterstützt die Arbeit der Salesianer Don Boscos in Syrien seit mehreren Jahren. Nach meiner Rückkehr aus Syrien erhielt ich die Nachricht, dass die Kinder und Jugendlichen, die das Don Bosco Zentrum besuchen, zukünftig nahrhafte Mahlzeiten bekommen anstatt der einfachen Snacks, die sie bislang erhielten. Für viele Kinder die einzige Mahlzeit am Tag.
Die Don Bosco Mission Austria bittet um Spenden, damit die Salesianer Don Boscos den Menschen in Syrien direkt helfen können. Spendenkonto Don Bosco Mission Austria: IBAN AT33 6000 0000 9001 3423 Kennwort: „Syrien“
„Die jungen Menschen in Syrien haben Hoffnung. Für sie ist es wichtig ihr Leben gestalten zu können“, sagt Pater Gaurie. (c) Don Bosco Mission Austria / Brigitte Sonnberger
Don Bosco Aleppo
In der 1948 gegründeten Niederlassung der Salesianer Don Boscos in Aleppo leben zurzeit vier Priester und ein Bruder. Etwa 800 Kinder und Jugendliche besuchen Woche für Woche das Don Bosco Zentrum. Die Jüngsten sind im Volksschulalter, die Ältesten studieren. Rund 120 Jugendliche und junge Erwachsene unterstützen die Salesianer als Erzieher und Animatoren.
Flucht aus Syrien
5,6 Millionen Syrer mussten das Land seit Ausbruch des Krieges verlassen, und es gibt ebenso viele Binnenflüchtlinge, jede dritte Person in Syrien ist zur Flucht innerhalb des Landes gezwungen. Syrien bleibt damit weltweit das größte Herkunftsland von Flüchtlingen.
Christen in Aleppo
Aleppo ist die Heimat der verschiedensten christlichen Gemeinschaften. Insgesamt leben wohl nur noch höchstens 20.000 Christen in Aleppo, schätzt Pater Gaurie. Vor dem Krieg sollen es 250.000 gewesen sein.
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Reportage von Brigitte Sonnberger, Don Bosco Mission Austria
[renate magerl]