Religiöse Vielfalt ist ein Geschenk Gottes
Bei den letzten Nationalratswahlen war die Zuwanderung und deren Beschränkung ein bestimmendes Thema – so als wäre das „unser“ größtes Problem. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass Vielfalt eine Gesellschaft nicht stärkt, sondern schwächt. Wie sehen Sie das?
Prof. Jäggle: Vielfalt ist eine Realität jeder demokratischen Gesellschaft, die nicht erst durch Migration entsteht, aber Migration macht sie sichtbarer. Natürlich sind mit Vielfalt Konflikte verbunden, aber Vielfalt ist nicht das Problem, sondern manche Formen des Umgangs mit Vielfalt sind problematisch. Wer Vielfalt bekämpft, schwächt auch die Menschenrechte. „Illegale Migration stoppen“ ist ein politisches Betäubungsmittel und Gift, dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Ausgrenzen und Abgrenzen entsprechend. Statt den Zusammenhalt einer Gesellschaft der Vielfalt zu fördern, wird das Gegeneinander gestärkt.
Bei einem Impuls vor Ordensleuten haben Sie gesagt, dass die Migration und religiöse Pluralität ein Kairos für die Orden sei. Was meinen Sie damit konkret?
Zuerst war die Frage: „Was hat sich Gott gedacht, dass er die Ordensgemeinschaften mit Migration und religiöser Pluralität beschenkt?“ Doch „beschenkt“ konnte zu idyllisch verstanden werden. Im Wissen um die bewährte Tradition, dass gerade im Fremden Gott begegnen kann, habe ich „beschenkt“ durch „heimsucht“ ersetzt: „Was hat sich Gott gedacht, dass er die Ordensgemeinschaften mit Migration und religiöser Pluralität heimsucht?“ Mit „heimsuchen“ wird die herausfordernde und stärkende Präsenz Gottes mittendrin deutlich. Nicht nur im Herbst 2015 waren die Orden ein ermutigender Zufluchtsort und Anwalt für Geflüchtete.
Religiöse Pluralität auf einem Bild: Univ. Prof. Martin Jäggle mit der Jüdin Sarah Egger (links), Geschäftsführerin im Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit, und der Muslima Muna Duzdar, von 2016 bis 2017 Staatssekretärin für Diversität, Öffentlichen Dienst und Digitalisierung im Bundeskanzleramt. Foto: © Peter Stiepanofsky
Im Bereich Bildung gibt es eine Vielfalt von Schulen: öffentliche, katholische und andere Privatschulen, Ordensschulen. Sehen Sie als Religionspädagoge in dieser Vielfalt eine Stärke oder ein Hindernis für die Entwicklungen im Bildungsbereich?
Die Vielfalt von Schulträgern ist ein besonderes Kennzeichen demokratischer Staaten. Totalitäre Staaten oder Diktaturen bekämpfen diese. Was sich Ordensschulen stets fragen sollten: Tun wir das uns Mögliche, um gesellschaftlicher Segregation entgegen zu wirken? Die Gründung vieler Ordensschulen erfolgte, um Bildung für alle zu ermöglichen. Wenn das Bemühen um jene, die aktuell nicht in diesen Schulen sind, schwindet, geht der ursprüngliche Ordensauftrag und vielleicht auch das Katholische verloren.
Welche Herausforderungen und Chancen bieten sich in dieser Vielfalt Ihrer Meinung nach den Ordensschulen?
Ordensschulen werden sich als Schulen der Vielfalt in ihren unterschiedlichen Dimensionen positionieren, in denen sich junge Menschen eine Kultur der Anerkennung aneignen können. Die herausfordernde Frage ist: Wie kann eine Ordensschule der Situation religiöser (und weltanschaulicher) Pluralität gerecht werden? Im Wissen um den einzigartigen Eigenwert der christlichen Tradition können Ordensschulen in der religiösen Pluralität ein Geschenk Gottes sehen, ohne in die Falle der Gleich-Gültigkeit zu gehen. Sie können Andersgläubige würdigen, ohne sie zu vereinnahmen. Auf der Basis ihrer religionssensiblen Schulkultur kann eine Religionen-sensible Praxis etabliert werden, die Vielfalt fruchtbar macht und Konflikte bearbeitet.
Sie sind Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, ein Zusammenschluss der christlichen Kirchen und der israelitischen Kultusgemeinden in Österreich zur Pflege der christlich-jüdischen Beziehungen. Durch Initiativen (etwa „Tag des Judentums“), persönliche Beziehungen und Begegnungen ist viel an Verständnis und gegenseitiger Wertschätzung gewachsen. Wieweit ist das in den Gemeinden z. B. in der Verkündigung spürbar?
Ohne die Förderung durch die Orden hätte das christlich-jüdische Gespräch in Österreich nicht so fruchtbar werden können. Aber die Jahrhunderte der kirchlichen „Lehre der Verachtung“ gegenüber Jüdinnen und Juden sind nicht in wenigen Jahrzehnten tilgbar. An der wachsenden Beteiligung am „Tag des Judentums“ wird die Veränderung erkennbar. Jede Gemeinde ist für sich verantwortlich, ob sie das Jüdische im Christentum entdecken will, das Alte Testament als Hebräische Bibel würdigt, die folgenreiche Polarisierung von „Gesetz oder Evangelium“ überwindet und ob sie sich dem lokalen Anteil an der Schoa stellt. Eine neue Chance dafür ergibt sich im kommenden Dezember, wenn die Lesungen aus der revidierten Einheitsübersetzung sein werden, die versucht, sich stärker am hebräischen Original zu orientieren. Für „Evangelien als jüdische Texte lesen“ oder „Von Abba bis Zorn Gottes. Irrtümer aufklären – Judentum verstehen“ gibt es nun verständliche Publikationen. Es ist wie beim Reich Gottes: Es kann noch wachsen.
Wie sollen Christinnen und Christen mit der religiösen Vielfalt, in der sie leben und mit anderen zusammenleben, umgehen?
Die katholische Kirche ist zu einem glaubwürdigen Akteur für Religionsfreiheit geworden. Daran können sich alle orientieren, denn das eigene Recht ist stets auch das Recht der Anderen. „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslime.“ (NA 3) Diese Vorgabe des Konzils lässt sich im Alltag einlösen, wenn zu hohen Festen Glück- und Segenswünsche ausgesprochen werden, wenn Diffamierungen und Polemiken entgegengetreten und Zusammenarbeit gesucht wird. Dabei brauchen die Ängste, Phobien oder Vorbehalte nicht verdrängt, aber die damit verbundene Lähmung kann überwunden werden.
Vielfalt stärkt. Wie würden Sie das persönlich begründen, erläutern?
Ich bin katholisch aufgewachsen – inmitten alltäglicher religiöser und konfessioneller Vielfalt. Rückblickend war es ein Privileg. So war das, was religiöse Identität genannt wird, für mich stets kommunikativ erworben und nicht abgrenzend oder ausgrenzend. Diese Chance ergibt sich, wenn es in der Vielfalt „normal ist, verschieden zu sein“.
[hwinkler]
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Paul Petzel (Hg.) / Norbert Reck (Hg.), Von Abba bis Zorn Gottes. Irrtümer aufklären – das Judentum verstehen. Patmos Verlag 2017.