Sei immer perfekt!
Herr Dr. Pichler, gibt es in unserer Gesellschaft einen Verlust von Sinn und Werten?
Ich würde jetzt nicht sagen, Sinn und Werte sind abhandengekommen, aber sie sind zumindest aus dem Fokus gerückt. Ich glaube, dass Sinnbedürfnis verschwindet nie; das liegt einfach im Menschen drinnen. Und Sinn erfüllen kann ich durch Wertevermittlung. Das heißt, die Werte sind da, das Sinnbedürfnis ist da. Die Frage ist, orientieren wir uns am Sinn? Blicken wir auf die Werte? Oder ignorieren wir sie. Aber Sinn und Werte sind grundsätzlich nicht verschwunden.
Nehmen wir das Burnout-Phänomen als Beispiel. Ich glaube, dieses Phänomen hat es immer schon gegeben, allerdings nicht unter diesem Namen. Es hat schon immer Menschen gegeben, die unter Belastungen zusammengebrochen sind.
Aber es muss doch einen Grund geben, warum Burnout jetzt so häufig auftritt.
Was aus dem Blick geraten ist, ist eben der Sinn. Es war früher leichter, einen Sinn in der Arbeit zu entdecken. Der Bauer, der Tischler, der Schuster, der Hufschmid, sie haben im wahrsten Sinne des Wortes sofort einen handfesten Sinn gesehen. Man sieht es heute noch in der Landwirtschaft, wo der Sinn der Tätigkeit noch immer sichtbar ist. In unserer heutigen Gesellschaft, wo manche Leute nur mehr Excel-Sheets verwalten, ist es schwieriger. Aber das tut der Sache keinen Abbruch. Nur weil ich darin keinen Sinn erkenne, heißt das nicht, dass meine Arbeit sinnlos sein muss.
Der Druck ist aber höher geworden …
Ja, der Druck ist sicher höher geworden. Und was oft unterschätzt wird, auch der Druck im Privatleben ist größer geworden. Das verlieren viele Führungskräfte aus dem Blickfeld. Sie sehen immer nur die Mitarbeiterin oder den Mitarbeiter. Dass sie oder er auch ein Privatleben hat, wird ausgeblendet. Dass viele Menschen zum Beispiel alleinerziehende Mütter sind, die wegen einer Partnerschaft, wegen einer Scheidung, wegen der Kinder Sorgen haben, das wird oft übersehen. Aber das spielt alles zusammen. Erst kürzlich veröffentlichte eine Versicherung eine Studie, die festgestellt hat, 25 Prozent der Menschen sind privat überlastet.
Man spricht nicht umsonst vom Freizeitstress …
Ja, absolut. Burnout hat immer zwei Komponenten: Äußerer Druck und innere Haltung. Es gibt die äußeren Bedingungen, es gibt aber auch sog. innere Antreiber, die sagen: Sei immer perfekt! Sei immer stark! Sei immer schnell. Lass dir nicht helfen. Wenn das noch dazu kommt, dann ist das gefährlich.
Jugendforschungs-Studien zeigen, dass Jugendliche einen sehr pragmatischen Zugang zum Leben haben. So nach dem Motto: Ich muss gut in der Schul und später gut angepasst sein, weil sonst kriege ich nachher keinen guten Job. Aber sehr viele fragen sich am Ende des Tages, wofür mache ich das eigentlich. Kriegt hier die Schule nicht eine ganz vehemente Aufgabe, Sinn und Werte zu vermitteln?
Diese Aufgabe hat die Schule auf gewisse Art und Weise schon immer gehabt. Ich bin kein Freund von gegenseitigen Schuldzuweisungen, so nach dem Motto: Die Schule sagt, die Eltern sind für die Erziehung verantwortlich und umgekehrt. In Wirklichkeit ist das Teamwork. Es müssen die Schülerin, der Schüler, die Eltern und die Schule mitarbeiten. Es war immer schon die Idee der Schule, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch eine Herzensbildung, eine Gewissenschulung, eine Wertevermittlung. Ich hab das selbst auch als Schüler erlebt, dass manche Lehrer nur Wissen vermittelt haben und andere Lehrer uns durchaus auch etwas fürs Leben mitgeben wollten, und sei es nur, indem sie vorlebten, wie man mit Konflikten umgeht.
Vom 5. bis 6. April 2017 fand im Bildungshaus Schloss Puchberg bei Wels die gesamtösterreichische Tagung der SchulerhalterInnen und DirektorInnen katholischer Berufsbildender mittlerer und höherer Schulen (BMHS) und Bildungsanstalten für Elementarpädagogik (BAfEP) statt. (c) rs
Und wenn das Elternhaus hier versagt?
Wenn das die Kinder vom Elternhaus nicht mitbekommen, aus welchem Grund auch immer, dann sind die Schülerin und der Schüler die letzten, die dafür verantwortlich gemacht werden können. Dann muss die Schule trotzdem den Teil übernehmen, den die Eltern nicht übernehmen, einfach im Sinne der Schülerin bzw. des Schülers – soweit es im Bereich des Möglichen ist. Stichwort Schülerzahl: Mit 30 oder mehr Schülern in der Klasse wird das schwierig.
Da muss man aber auch das Schulsystem in Verantwortung nehmen.
Ein klares Ja! Man muss sich ja nur das Bundesbudget anschauen: Wieviel geben wir für Bildung und wieviel geben wir für andere Dinge aus. Natürlich ist das Budget eine in Zahlen gegossene Priorisierung, was ist uns wichtig und was nicht. Und ich finde, Bildung wird viel zu wenig wichtig genommen. Bildung fängt bei mir schon im Kindergarten an. Die Kindergartenpädagogin bzw. –pädagoge ist einer der unterbewertetsten Berufe überhaupt. Das ist der eigentliche Skandal, wenn man so will, ist, dass sie nachweislich wichtigste Phase eines Kindes, die ersten Lebensjahre, so sträflich behandelt werden.
Rückt in der Schule die Individualisierung der Schülerinnen und Schüler im Sinne einer Gleichmacherei nicht immer mehr in den Hintergrund?
Es ist in meinen Augen ein großes Problem, dieses Über-einen-Kamm-scheren. Selbst wenn wir auf Platz 1 in der Pisa-Studie wären, ist das auch nur ein Durchschnittswert. Und was hat eine Schülerin und ein Schüler mit besonderen Bedürfnissen davon, dass wir auf Platz 1 sind? Das Thema Individualisierung versuche ich immer sehr differenziert zu sehen. Es ist ganz leicht, auf das Bildungssystem hinzuhacken, denn wir haben acht Millionen Bildungsexperten in Österreich. Aber ein bezeichnendes Phänomen spricht für mich Bände. Stellen Sie sich vor, Sie bringen Ihr Auto zum Service und kriegen es dann nachher zurück, und mit einer zehn bis 15protentigen Wahrscheinlichkeit ist das Auto trotzdem nicht in Ordnung. Und dann gibt es eine eigene Branche, die entstanden ist, damit sie ihr Auto reparieren lassen können, weil es in der Werkstatt nicht gut genug serviciert wurden. So viel zum Thema Nachhilfe. Allein die Tatsache, dass es Nachhilfe geben muss, ist für mich ein Zeichen, dass in der Bildung etwas falsch läuft. Dann kommt sofort das Argument: Na ja, das ist der Ehrgeiz der Eltern, die wollen, dass ihr Kind in ein Gymnasium geht. Die gibt es auch, aber die meisten Kinder bleiben auf der Strecke, weil sie überfordert werden. Das ist für mich schon ein Alarmzeichen, dass es eine eigene Institution gibt, die das repariert, was andere nicht geschafft haben. Da herrscht für mich schon Handlungsbedarf.
Veranstalter der Tagung waren die Ordensgemeinschaften Österreich, die kirchlich Pädagogische Hochschule Wien/Krems und das Interdiözesane Amt für Unterricht und Erziehung.
[rs]